Social Media könnten unser parlamentarisches System, das auf dem Erzielen von Kompromissen basiert, fördern, sie sollten es aber nicht ersetzen.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 11 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
Unsere bestehenden demokratischen Einrichtungen, Parteien, Parlamente, Justizbehörden, Sozialpartner etc. sehen sehr alt und behäbig aus angesichts der schicken, sich ständig wandelnden Plattformen von Facebook & Co, wo jeder mit einem Klick darüber abstimmen kann, was er mag und was nicht. Wozu noch Parteien, Wahlen und Parlamente, wenn es doch die "Weisheit des Schwarms" gibt und wir in Echtzeit scheinbar objektiv messen können, wohin der Trend geht, was die Mehrheit "will"?
Die alte Kritik am repräsentativ demokratischen System schimmert in der Forderung nach mehr "direkter Demokratie" und permanenten Abstimmungen und Votings durch. Hans Kelsen, der Autor der österreichischen Verfassung, zeigte bereits 1920 in "Wesen und Wert der Demokratie", dass hinter der Forderung nach mehr direkter Demokratie ein tiefgreifender Konflikt stecke, was unter dem "Willen des Volkes" zu verstehen sei.
Schon die damaligen Parlamentarismus-Kritiker gingen davon aus, dass der Wille des Volkes zwar vorliege, das bestehende System ihn aber nicht richtig "vernehme". Dem entgegnete Kelsen, dies sei nicht möglich, da der Wille des Volkes nicht vorgegeben, sondern erst durch Verhandlung, Abtausch, Kompromiss unter den gewählten Repräsentanten der Demokratie herzustellen sei. Ein prä-existierender Wille des Volks sei eine Illusion.
Im iPhone- und Android-Zeitalter klingt all dies wenig sexy: Abtausch, Junktimierungen, Kompromisse als eigentliches Wesen der Demokratie? Könnten in einer Kultur der Ich-AGs, in der jeder sich selbst vertritt und seine Meinungen in Echtzeit postet oder twittert, nicht Algorithmen den "allgemeinen Willen" herausfiltern?
Die Fantasie, eine technisch basierte Schwarmdemokratie solle die alte parlamentarische Ordnung, wenn nicht absetzen, so doch in entscheidenden Fragen ersetzen, zielt auf keine Weiterentwicklung der Demokratie ab, sondern auf deren Zersetzung. Sie nährt die Illusion der Möglichkeit einer Willensbildung ohne Ambiguität, ohne Ambivalenz, sondern basierend auf "sauberen" Daten und Fakten. So wie die neuerdings in Europa grassierende Idee von "Expertenregierungen".
Eine Weiterentwicklung der Demokratie besteht aber nicht in rechtspopulistischer ("der Führer"), linksromantischer ("alle reden mit") oder technokratischer ("die Weisheit des Schwarms") Hypertrophie, sondern einer Reform der Parteien, der eigentlichen Organe der Willensbildung. Sie müssen endlich wieder die vielen verschiedenen gesellschaftlichen Bereiche in die Arena parteiinterner Aushandlungsprozesse einbeziehen. Eine Wahlrechtsreform könnte die Direktwahl von Mandataren über Parteizugehörigkeitsgrenzen hinweg ermöglichen. Eine Obergrenze von zwei Funktionsperioden von Parlamentariern könnte "Verkrustungen" entgegenwirken. Freilich könnten Social Media Dialog- und Aushandlungsprozesse fördern. Am Ende steht aber nicht die mathematische Reinheit eines Voting-Algorithmus, sondern die Ambiguität des Kompromisses. Sind wir nüchtern genug, Demokratie im Zeitalter von Facebook & Co mit so realistischen Augen anzublicken?