Stärker als Sicherheitsfragen tangieren soziale Probleme die Bevölkerung. | Großer Protesttag am Wochenende. | Siedlungsbau macht Wohnen teuer.
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Jerusalem. Die zweite Nacht in Folge flogen israelische Kampfflugzeuge Angriffe auf den Gaza-Streifen, nachdem von dort aus Kassam-Raketen auf israelisches Territorium geflogen waren. Diese Nachricht schaffte es zwar wie üblich in die Schlagzeilen, aber anders als sonst steht in Israel zurzeit nicht ausschließlich die Sicherheit des Landes im Zentrum der medialen Erörterung. Seit Wochen protestieren die Bürger gegen zu hohe Lebenshaltungskosten. Und für dieses Wochenende sind neue Kundgebungen angesagt, deren Teilnehmerzahl nach Wunsch der Organisatoren 200.000 Menschen überschreiten soll. Bereits vor einer Woche waren bis zu 150.000 Demonstranten aufmarschiert.
Ein in dieser Woche durch die Regierung von Benjamin Netanyahu verabschiedetes Gesetz konnte an dem Unmut nichts ändern. Dieses sieht eine Beschleunigung des Wohnbaus durch Beseitigung bürokratischer Hürden bei der Genehmigung vor. Aber der Wohnungsmangel ist nach Ansicht der Aktivisten nicht der einzige Grund für die hohen Wohnkosten, die am 14. Juli einige junge Angestellte dazu trieben, sechs Zelte auf dem Rothschild-Boulevard von Tel Aviv aufzubauen. Mittlerweile ist die Zeltstadt auf der elegantesten Straße der Stadt auf über 400 Behausungen angewachsen. Und dort stößt nicht nur die Zahl der Wohnungen auf Kritik, sondern auch, dass nur hochpreisige Wohnungen gebaut werden, sodass für die Mittelschicht keine billigen Unterkünfte zur Verfügung stehen.
Mehr als Wohnungen
Mittlerweile geht es auch nicht mehr bloß um bezahlbare Wohnungen und einen stärkeren Mieterschutz. Weil auch die Lebensmittel zu teuer sind, wird eine Senkung der Mehrwertsteuer gefordert. Und Universitätsdozenten, Lehrer, Schüler und Studenten gehen auf die Straße, um "freie Bildung für alle" einzufordern.
Dass Ministerpräsident Netanyahu die Proteste angesichts der hervorragenden Wirtschaftsdaten als "populistische Welle" abtut, stößt nicht nur bei Oppositionsführerin Tzipi Livni auf Protest, sondern auch in der eigenen Likud-Partei. Sozialminister Moshe Kahlon nannte die Proteste "gerechtfertigt. Die Leute schreien vor Schmerz und wir sollten auf sie hören."
Roi Noman, einer der Protestorganisatoren, hat das Vertrauen in die Regierung indes schon verloren. Laut ihm soll die Hauptaussage der Demonstrationen am Samstag sein, dass "die Regierung das Volk im Stich gelassen hat." Soziale Gerechtigkeit und die Sicherung des Wohlfahrtsstaates will man in den Mittelpunkt stellen. "Das Volk nimmt sein Land wieder in die Hand", meint Noman.
Die breite Front für den sozialen Umbruch erklärt sich dadurch, dass die Demonstranten parteiunabhängig agieren und nicht nur Juden, sondern auch Araber einbeziehen. Kritische Themen wie die Palästinenserfrage werden dabei nicht angesprochen. Sie machen sich allerdings trotzdem bemerkbar. So wird von Auseinandersetzungen zwischen Ultra-Orthodoxen und säkularen Juden während der Proteste berichtet. Denn die Strenggläubigen glauben, dass man die Wohnungskrise mit vermehrtem Siedlungsbau in Jerusalem und der Westbank lösen könnte. Ihre Gegner meinen hingegen, dass genau die Politik des Siedlungsbaus im besetzten Territorium die Lage am Wohnungsmarkt verschärft.
Problem Siedlungsbau
Tatsächlich, so rechnen die Friedensaktivisten von "Peace Now" vor, setzt die Regierung 15 Prozent ihres Baubudgets für den Siedlungsausbau in der Westbank ein, wo nur vier Prozent der israelischen Bevölkerung leben. Laut anderen Quellen bekommen die Siedlungen doppelt so viel pro Kopf wie die Gemeinden im israelischen Kernland. Die militärische Absicherung der Siedler und die nötige Infrastruktur belasten das israelische Budget schwer, vom politischen Preis ganz abgesehen: Der Ausbau der Siedlungen ist das Haupthindernis für eine Friedenslösung mit der Palästinensischen Autonomiebehörde von Mahmoud Abbas, die im Westjordanland regiert.
Netanyahu verliert Fans
Erst am Donnerstag ist der Ausbau der Siedlung Har Homa in Ostjerusalem um 930 Wohneinheiten endgültig genehmigt worden. Der Siedlungsbau ist nicht nur zentrales Anliegen von Netanyahus Likud, sondern auch der ultra-religiösen und nationalistischen Parteien, die mit ihm eine Koalition bilden. Die Regierung ist auch durch die Protestwelle nicht gefährdet, meinen Experten, weil der Widerstand gegen die Politik des freien Marktes und der Privatisierungen, die Netanyahu betreibt, noch nicht zu einem politischen Programm geführt hat. Würde sich eine neue Partei auf soziale Anliegen konzentrieren, würde diese laut Umfragen auf Anhieb zweitstärkste Kraft in der Knesset. Die Zustimmung zu Netanyahu ist in den letzten beiden Monaten von 51 auf 32 Prozent gesunken.
Dem Premier könnte aber innenpolitisch ausgerechnet das zugute kommen, was ihm außenpolitisch zu schaffen macht: Wenn im September wirklich ein Antrag zur Aufnahme eines eigenständigen Staates Palästina in der UNO eingebracht wird, ist mit Turbulenzen zu rechnen, egal ob das Anliegen durchgeht. Palästinensische Demonstrationen sind in jedem Fall zu erwarten. Und dann könnte die Sicherheitsfrage bei Israels Bevölkerung doch wieder an erster Stelle stehen.