Das Dilemma der Grünen ist, dass sich dort, wo sie wahre kollektive Verbindlichkeit freizulegen hofften, stattdessen ein gähnender Abgrund auftat.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 7 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
Der Absturz der Grünen betrifft das Projekt einer großen Transformation insgesamt, des grundlegenden Strukturwandels zur Nachhaltigkeit, zum guten Leben für alle oder wie immer wir es nennen wollen. Was haben die Nationalratswahlen da signalisiert? Wie können die Grünen sich neu erfinden? Isolde Charim argumentierte in ihrem Kommentar (21. Oktober), der "grüne Typus" sei heute überholt. Sie meint ein bestimmtes Bürgerschaftsverständnis. Ich möchte präzisieren: Die Grünen haben sich selbst überholt, wegmodernisiert. Man nannte das einmal Dialektik.
Als Bündelpartei der emanzipatorischen Bewegungen haben die Grünen gegen bevormundende Normen gekämpft - nie in dem Glauben, dass alles erlaubt sein müsse, sondern immer in der Gewissheit, dass es kategorische Imperative der Ökologie gebe und die Befreiung vom herrschenden Wahnsinn diese zur Geltung bringen werde. Dieser Glaube war falsch - ist aber, um mit Charim zu sprechen, "grüne DNA".
Das Dilemma der Grünen ist nun, dass sich dort, wo sie wahre kollektive Verbindlichkeit freizulegen hofften, stattdessen ein gähnender Abgrund auftat. Nach der Auflösung der hergebrachten Normen war plötzlich nichts mehr da, was der entgrenzten, individuellen Freiheit ein Regulativ sein könnte. Schmerzhaft die Konvergenz mit dem Neoliberalismus. Andreas Novy brachte das in seiner Replik auf Charim (24. Oktober) auf den Punkt: Jede sozial-ökologische Politik erscheint nun als nicht zu rechtfertigender Eingriff in die persönliche Freiheit. Das ist aber nicht bloß "Zeitgeist", sondern eben Dialektik.
Eine bittere Ironie liegt in der Erkenntnis, dass ausgerechnet das grüne Projekt auf Ressourcen (Normen) gründete, die es selbst nicht reproduzieren kann, die es aber sukzessive ausgezehrt hat, bis zum Punkt seines Zusammenbruchs. Schlimmer noch: Diese Auszehrung wurde unversehens auch noch zum Treibsatz für das rechtspopulistische Nachfolgeprojekt. Die gleiche Ironie zeigt sich darin, dass die Basisdemokratie, die einmal die grüne Wunderwaffe gegen den Wahnsinn des Systems sein sollte, inzwischen zum Legitimationsinstrument derer mutiert ist, die die Logik der sozialen und ökologischen Exklusion verschärfen wollen. Aber was setzt man der wild gewordenen Volkssouveränität entgegen?
Die Vorkämpfer der Nachhaltigkeit verbieten sich hartnäckig den kritischen Blick auf das eigene Narrativ - und in den politischen Abgrund, vor dem sie stehen.
Unermüdlich haben die Grünen die Behauptung wiederholt, dass ein "Weiter so" keine Option sei und ein grundlegender Wandel zwangsweise erfolgen müsse, weil das eine ökologische Unausweichlichkeit sei. Diese Geschichte ist evident falsch! "Weiter so" ist exakt das, was moderne Gesellschaften mit Entschiedenheit betreiben. Vehement verteidigen sie unsere Werte, unsere Freiheit, unseren Lebensstil. Und die Erzähler der großen Transformation insistieren derweil, der Wandel zur Nachhaltigkeit habe bereits begonnen. Längst haben die Bürger diesen Widersinn durchschaut. Diese Geschichten mag niemand mehr glauben. Doch die Vorkämpfer der Nachhaltigkeit verbieten sich hartnäckig den kritischen Blick auf das eigene Narrativ - und in den politischen Abgrund, vor dem sie stehen.
Vor Jahrzehnten waren die Grünen Aufklärer und vorn; jetzt sind sie Nachzügler, Realitätsverweigerer - überholt vom neuen Realismus der Bürger, die längst wissen, dass es das gute Leben für alle nie geben wird, und glauben: Zusammen sind wir schwach, Ballast abwerfen könnte uns stärken. Die Wahlen wurden gewonnen mit "Es ist Zeit!" - für mehr Grenzen und Ausgrenzung.
Dass das grüne Projekt der ökologisch und sozial befriedeten Welt sich wiederbeleben lässt, ist vor diesem Hintergrund schwer vorstellbar. Die grüne Partei aber vielleicht doch. Eine notwendige Bedingung dafür wäre, dass die Grünen sich der Dialektik des eigenen Projekts stellen. Grenzen werden - Novy betonte das sehr richtig - tatsächlich dringend gebraucht: für unsere Werte, unsere Freiheit und unseren Lebensstil. Aber sie werden nie als ökologische Imperative von der Natur her kommen, sondern Grüne werden sie politisch aushandeln müssen. Das erfordert eine Veränderung in ihrer DNA.