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Die Neuerfindung von Siemens

Von Ronald Schönhuber

Wirtschaft

Konzernchef Kaeser baut den in der Identitätskrise steckende Technologieriesen radikal um. Die Mitarbeiter bangen um ihre Jobs.


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München. Der Mann ist ein echter "Siemensianer". Seit 1980 ist Joe Kaeser, der damals - vor der selbst gewählten Anglisierung seines Namens - noch Josef Käser hieß, beim Münchner Technologieriesen tätig. Wie kaum ein Zweiter kennt der Diplombetriebswirt, der stets auch die abseitigsten Zahlen im Kopf hat, das Innenleben des Konzerns.

Bereits in der Zeit, als Kaeser noch Finanzvorstand war, galt der heute 56-jährige Niederbayer als heimlicher Siemens-Chef. Auf Analystenkonferenzen richteten die Experten fast alle Fragen ihn, während der damalige Vorstandsvorsitzende Peter Löscher oft nur wie Staffage wirkte. Kaeser war der Mann, der die Analysten mit Zahlen und die Investoren mit Vertrauen versorgte.

Entsprechend groß waren im vergangenen Sommer auch die Hoffnungen, als Kaeser nach einem wochenlang für Schlagzeilen sorgenden Übernahmekampf Löscher an der Konzernspitze ablöste. Der Österreicher, der nach dem Korruptionsskandal im Jahr 2007 als Sanierer geholt wurde, war mit Siemens nie wirklich warm geworden. Zudem war die Ära Löscher von einer ganzen Serie von teuren Pannen und unternehmerischen Fehlentscheidungen geprägt. Was mit dem überteuerten Einkauf des Labordiagnostikgeschäfts und massiven Verlusten im Solargeschäft begann, mündete zuletzt in einer Reihe von kostspieligen und den Ruf ankratzenden Fehlschlägen: Bei den ICE-Zügen wurde der Liefertermin um ein Jahr verfehlt, in den USA brachen Windkraftanlagen einfach auseinander und der Anschluss der Nordsee-Windparks an das Stromnetz geriet zum Fiasko.

Fast noch schwerer wog aus Sicht vieler Siemensianer allerdings die unklare Ausrichtung und Struktur des 166 Jahre alten Traditionsunternehmens, dessen Markenetikett einmal auf nahezu jedem Gerät zu finden war, das mit Strom betrieben wurde. Wohin Siemens gehen soll, konnte Löscher häufig selbst nicht so genau sagen.

Profitabler mit Digitalisierung

Dass er es ganz anders als sein Vorgänger machen will, hat Kaeser jedenfalls am Mittwoch deutlich gemacht. Mit dem "Vision 2020" genannten Programm, an dem knapp ein Jahr gearbeitet wurde, will der 56-Jährige dem Unternehmen eine langfristige Perspektive geben. Durch den größten Konzernumbau seit Jahren soll Siemens vor allem zur Konkurrenz aufschließen. Die schweizerische ABB oder der US-Giganten General Electric, mit dem man sich gerade einen Bieterwettbewerb um die Energiesparte von Alstom liefert, produzieren deutlich profitabler.

Die größten Wachstumschancen sieht Kaeser dabei in den Bereichen Elektrifizierung, Automatisierung und Digitalisierung, wobei Letzeres für den Siemens-Chef das größte Zukunftsversprechen darstellt. Die Division "Digital Factory", die unter anderem Fernwartungslösungen für Industrieanlagen entwickeln wird, soll bis zu 20 Prozent operative Rendite abwerfen.

Die Schwerindustrie (siehe Artikel unten) und die traditionsreiche Medizintechnik sollen dagegen nur noch eine untergeordnete Rolle spielen. Die Medizin entferne sich von der traditionellen Gerätemedizin, wo Siemens mit seinen Computertomographen und ähnlichen Diagnoseapparaten stark sei, sagte Kaeser.

Nicht eingeplant ist in der "Vision 2020" zudem die Energietechnik-Sparte des französischen Rivalen Alstom. Siemens sei zwar ernsthaft interessiert, erklärte Kaeser am Mittwoch. Gleichzeitig machte er aber deutlich, dass sein Unternehmen sich nicht um jeden Preis auf eine Übernahme einlassen will. "Wir werden keine modernen Gladiatorenkämpfe in Paris veranstalten."

Bis zu 10.000 Jobs bedroht?

Zurück auf die Siegerstraße sollen Siemens aber nicht nur neue Geschäftsfelder führen. Kaeser will auch rund eine Milliarde einsparen. Erreicht werden soll das vor allem durch die Reduktion von Verwaltungsebenen, anstelle der vier großen Konzernsektoren (Energie, Gesundheitswesen, Industrie sowie Infrastruktur und Städte) sollen künftig neun Divisionen treten.

Dass es allerdings ausschließlich bei Einsparungen von weit oben angesiedelten Verwaltungsebenen bleiben wird, wollen die deutschen Gewerkschaften nicht glauben. Sie gehen davon aus, dass sich die 360.000 Mitarbeiter nach den zahlreichen Spar- und Sanierungsprogrammen der vergangenen Jahren erneut auf harte Einschnitte gefasst machen müssen. Laut der Nachrichtenagentur dpa könnten zwischen 5000 und 10.000 Arbeitsplätze bedroht sein. Kaeser selbst wollte hingegen nicht sagen, wie viele Jobs auf der Strecke bleiben werden.

Dass das Münchner Traditionsunternehmen auf lange Zeit nicht mehr so weitermachen kann wie bisher, belegen aber auch die aktuellen Geschäftszahlen. Im ersten Quartal 2014 war der operative Gewinn bei einem stagnierenden Gesamtumsatz von 17,5 Milliarden Euro zwar um ein Sechstel auf 1,57 Milliarden Euro geklettert, die Analysten hatten aber deutlich mehr erwartet. Noch deutlich enttäuschender fiel der Auftragseingang aus. Während General Electric sich zuletzt über eine kräftigen Zuwachs bei den Bestellungen freuen konnte, verzeichneten die Münchner bis März ein überraschend starkes Minus von 13 Prozent.