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Wo Anerkennung angebracht ist, soll sie ausgedrückt werden. In diesem Falle gilt sie, als Erinnerung an eine kompetente Einsicht über die Bedeutung der mittelständischen Wirtschaft in Zeiten, als das alles andere als modisch war, einer kleinen Frage. Sie wurde 1994, als allerlei Propheten auch für Österreich das Zukunftsmodell einer Ökonomie absonderlichster Dienstleistungen propagierten, auf dem Europäischen Forum Alpbach vom damaligen Chef des Wirtschaftsforschungsinstituts (WiFo), Helmut Kramer, formuliert. Es war eine ziemlich einfache, aber fundamentale Frage: Woher kommt eigentlich das Geld, mit dem man sich diese Dienste auch leisten kann?
Die Antwort war damals so eindeutig, wie sie es heute noch ist: "Von der Industrie", sagte Kramer, "weil sie nach wie vor den größten Teil der in- und ausländischen Nachfrage befriedigt, weil ihre Produkte und ihre Wettbewerbsfähigkeit mehr als alles andere die wirtschaftliche und gesellschaftliche Dynamik, die Verhaltensweisen, die Umweltqualität und natürlich die Leistungsbilanz prägen. In diesem Sinne hängen die meisten anderen Sektoren der Wirtschaft, auch die meisten Dienstleistungen, von der Indus- trie ab, weisen eine abgeleitete wirtschaftliche Existenz auf. Die Verfügbarkeit über industrielles Know-how ist entscheidend - und wird entscheidend dafür bleiben, ob wir unsere Wohlfahrt erhalten und verbessern können."
Was zählt wirklich?
Auch wenn die Publizistik sich mittlerweile eher auf die Suspense-Geschichten vom Aufstieg und Fall der Großkonzerne und ihrer Protagonisten und auf tolle Geschichten von Internet-Firmen ausgerichtet hat - der Sektor dessen, was pauschal "Mittelstand" genannt wird, war, ist und bleibt die entscheidende und erfolgsgarantierende Größe in der Wertschöpfung einer Volkswirtschaft, für ihre Substanzwerte ebenso wie für das, was an Dienstleistungen zur Pflege, Präsentation und Begleitung dieser Werte notwendig und angebracht erscheint.
Allerdings ist diese lehrbuchartige Einsicht kaum geeignet, eine weitere Frage zu beantworten: Warum ist dieser Mittelstand in Österreich (und in Deutschland nicht minder) so erfolgreich? Was trieb die Akteure an, Krisen wie jene von 2001 oder die von 2008, erfolgreich zu überwinden? Was begründet ihre Zuversicht auch nun, in der noch ungelösten Staatsschulden-Krise?
Um einer Antwort auf diese Frage näherzukommen, sind in einer aktuellen Studie in Deutschland 310 Wirtschaftsakteure befragt worden. Diese Befragung wurde durch 22 begleitende Tiefeninterviews ergänzt. Um sicher zu gehen, dass die Antworten der Klientel tatsächlich die Charakteristik mittelständischen Unternehmertums repräsentierten, wurden als Kontrolle 80 publizierte Interviews mit Spitzenmanagern größerer Konzerne ausgewertet.
Also wie ist das im Alltag? Welche Kriterien werden konkret als erfolgstragend gesehen? Sind es Modelle, Systeme, Tools? Ist es die Kreativität herausragender Persönlichkeiten? Oder braucht man einfach nur Glück? Mit anderen Worten: Was zählt nach Meinung der Akteure wirklich - und was wird den künftigen Erfolg des Managements prägen: Strategie? Genie? Oder Zufall? Diese Fragen sind ja insofern interessant, als sie sich mit einer weiteren verbinden: Was kann man vom Mittelstand lernen?
Auf diese letzte Frage gibt es zunächst einmal eine sehr einfache Antwort: konkret nichts! Denn der Erfolg jedes Unternehmens ist eine höchst individuelle Angelegenheit. Vor allem aber ist die Betroffenheit von den Herausforderungen der Unternehmensumwelt je nach Lage der Dinge für die verschiedenen Unternehmen völlig unterschiedlich.
Ein Beispiel: In Italien tritt Ende Juni 2009 aus einem Kesselwagen eines Güterzuges Gas aus und explodiert. Diese Explosion richtet erheblichen Schaden an und fordert Todesopfer. Auch wenn es angesichts einer solchen Katastrophe pietätlos erscheint, interessieren hier zuvorderst die wirtschaftlichen Folgen dieses Ereignisses. Da gibt es natürlich Verlierer: Die Hersteller einschlägiger Transportmittel erleiden massive Einbrüche und sehen sich teuren Sicherheitsanforderungen ausgesetzt, die nun europaweit Gesetz werden.
Auf der anderen Seite stehen die unverhofften Gewinner, denn gleichzeitig schießen Umsätze und Gewinne eines Unternehmens in die Höhe, das sich auf Güterwageninstandhaltung spezialisiert hat und entsprechende Monitoring-Systeme für die Messung des Verschleißes entwickelt hat. Denn so etwas wurde fortan gesetzlich vorgeschrieben.
So ist das Ergebnis auf die Frage nach den "Überraschungen" der letzten Jahre, auf die man nun wirklich nicht vorbereitet war, so vielfältig wie die Schar der repräsentativ ausgesuchten 310 Akteure der mittelständischen Wirtschaft. Natürlich stand und steht die Krise (als Finanz-, Wirtschafts- oder Bankenkrise) im Zentrum der meisten Antworten. Gut ein Drittel aller Befragten nennt diese Brüche. Aber aus der Vielzahl sonstiger Antworten den Schluss zu ziehen, die Krisensymptomatik sei das Kernergebnis, ist falsch.
Das Kernergebnis ist eben diese Vielfalt an Einzelantworten, in denen sich auch andeutet, dass unerwartete Herausforderungen als völlig normal angesehen werden. Es sind ganz unterschiedliche Domänen angesprochen, zum Beispiel politische, soziale und kulturelle Rahmenbedingungen. Zu ihnen zählen gleichermaßen die Abwrackprämie, Basel II, der Bologna-Prozess, die Niedrigzinspolitik, das Sinken des allgemeinen Bildungsniveaus, übertriebener Verbraucherschutz oder das Verbot der Glühbirne. Es werden zahlreiche technologische Umwälzungen genannt, selbstverständlich die "I-Padisierung", aber auch die Einführung von RFID (d.i. "radio-frequency identification"; ermöglicht die automatische Identifizierung und Lokalisierung von Gegenständen und Lebewesen und erleichtert damit erheblich die Erfassung von Daten), die Biochemie oder die Konsequenzen branchenweit weltweit gleichartiger Software-Systeme.
Individuelle Strategien
Man beklagt die nachlassende Moral des Managements, kurzlebige Managementkonzepte, Herden-Denken, mangelhafte Risikoanalyse, Millionenboni und Abfindungen an Führungspositionen, aber auch den ständig steigenden Beratungsbedarf und eine gleichzeitig wachsende Risikobereitschaft der Finanzwelt. Aber es geht auch um reale Dinge wie den ungewöhnlich trockenen April 2011, veränderte Werbeformen und positive Entwicklungen, wie etwa konzertierte Branchenaktivitäten in der Forschung. Überraschungen aller Art - und in den begleitenden Gesprächen vertiefte sich der Eindruck der individuelle Betroffenheit je nach Branche, Markt, Kernkompetenz und Historie des jeweiligen Unternehmens.
Das ist die eine Überraschung der Studie. Die zweite ist, dass in der Befragung und in den Gesprächen zwar "Strategie" als fundamentale Methode, mit Unwägbarkeiten umzugehen, genannt wird. Doch dann verdichtet sich auch bei dieser Frage zunehmend der Eindruck, dass neben den klassischen Routine-Elementen der Betriebsführung unter Strategie so ziemlich alles verstanden wird, was der längerfristigen und systematischen Erfolgs-Vorsorge dient.
Dieser pragmatische Individualismus wird noch deutlicher, wenn man nach dem Einsatz konkreter Strategie-Modelle fragt, also nach den berühmten "Tools", Best Practices, Systemen und "Performance Measures". Auch bei diesen Konzepten decken die verbreiteten Begriffe eher situationsgebundene, firmenspezifische oder gar persönlich-individuelle Aktivitäten der systematischen Erfolgs-Vorsorge ab, als die Anwendung vorgefertigter Konzepte.
Auch in diesen Antworten, in denen "Strategie" als Ausdrucksform individuellen Handelns des Unternehmens oder seiner Führung erscheint, manifestiert sich das auf einem pragmatischen Individualismus gegründete Selbstbewusstsein der unverwechselbaren Kompetenz, die sich in ebenso vielen "Strategien" niederschlägt, wie es Unternehmen gibt.
Dieses Ergebnis wird schließlich, um ein weiteres bemerkenswertes Ergebnis anzuführen, von den Antworten auf die Frage nach der Rolle von Vordenkern bestätigt. Nur 126 der 310 befragten Manager und Studierenden antworteten überhaupt darauf. Und von diesen 126 Personen wurden 127 verschiedene Autoren, Forscher, Wissenschafter und sonstige mehr oder weniger prominente Zeitgenossen der aktuellen Wirtschaftspublizistik genannt. Gurus? Management-Modemacher? Trendforscher? Fehlanzeige.
"Wer die braucht, ist ohnehin ein Verlierer", meint der Geschäftsführer eines international tätigen Maschinenbau-Unternehmens. Immerhin gehe es um Kernkompetenzen, und die wolle man weder anderen offenbaren, und schon gar nicht branchenfremden Beratern, noch könnte irgendein Außenstehender sinnvolle Ratschläge geben. Selbst die weltweit tatsächlich als sogenannte "Vordenker" bekannten Personen wurden nur in wenigen Antworten erwähnt - so wurde etwa Peter Drucker acht Mal erwähnt und rangiert damit schon an der Spitze dieser Liste. Dennoch wird in den begleitenden Gesprächen die Bedeutung von Vordenkern bestätigt. Aber es sind keineswegs die öffentlich bekannten Gurus. Es sind durchwegs Personen, mit denen man im Alltag arbeitet - Chefs, ältere Kollegen oder Mitglieder der Branchenverbände, von denen man lernt oder gelernt hat.
Was bleibt am Ende?
Angemessene Erfolgs-Vorsorge resultiert aus dem Selbstverständnis bescheidener Genies, die im individuellen Kontext ihres Unternehmens unverwechselbaren Strategien zielgerichtet zu verfolgen und dabei jederzeit in der Lage zu sein, bei unerwarteten Wendungen die entsprechenden Chancen zu nutzen oder Risiken zu minimieren. Dass es diese Wendungen - diese "Zufälle" - gibt, ist offenkundig; jeder weiß, dass selbst Ereignisse, die rein mathematisch gesehen nur einmal alle 10.000 Jahre vorkommen, bereits morgen in der Früh eintreffen können. Man nennt sie nur nicht Zufälle. Auch Begriffe wie Chaos, Drohung, Schicksal erscheinen den Befragten unangemessen.
Aber was dann? "Herausforderungen", sagen 94 Prozent der Angesprochenen. Herausforderungen, denen man mit einer kompetenten und sachgerecht informierten Mannschaft begegnet. Das sei es auch, was der Nachwuchs lernen müsse: Gelassenheit beim Umgang mit dem Unvorhersehbaren. Und so raten denn diese ruhigen und pragmatischen Wirtschaftsakteure ihrem eigenen Nachwuchs auch nichts Konkretes. Nur dies: Individuell zu bleiben und ein Arbeitsfeld zu wählen, auf dem man sich sinnvoll aufgehoben und zu Höchstleistungen animiert fühlt.
Holger Rust, geboren 1946, ist Pu-blizist und Professor für Soziologie in Hannover.
Die vollständige Studie erscheint Ende
März in Holger Rusts neuem Buch, "Strategie? Genie? Oder Zufall? Was
wirklich hinter Managementerfolgen steckt", im Wirtschaftsverlag Gabler.