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Die obszöne Kehrseite

Von Isolde Charim

Gastkommentare
Isolde Charim ist Philosophin und Publizistin und arbeitet als wissenschaftliche Kuratorin am Kreisky Forum in Wien. Foto: Daniel Novotny

Nachtrag zum Internationalen Frauentag.


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Klar ist, wie unerwartet, wie explosiv aber auch wie zwiespältig #metoo ist. Unklar ist, wie grundlegend es die Gesellschaft tatsächlich verändern wird. Was man aber jetzt schon mit Sicherheit sagen kann: #metoo war eine große Lektion in Sachen gesellschaftlicher Ordnung.

Wir haben auf offener Bühne erfahren, wie sich das mit Geboten und Verboten verhält. Entgegen dem, was man annehmen würde - die guten Sitten legen nicht einfach nur fest, was man darf und was nicht. #metoo hat gezeigt, dass es neben erlaubt und verboten noch ein Drittes gibt: das tolerierte verbotene Verhalten. Der Sittenkodex hat gewissermaßen eine Vorder- und eine Hinterbühne. Auf der großen Bühne steht das offizielle, das explizite, das formulierte Gesetz. Auf der Schattenbühne im Hintergrund aber vollzieht sich das, was Slavoj Zizek das "obszöne Gesetz" nennt. Das sind jene ungeschriebenen, unausgesprochenen, uneingestandenen, aber geduldeten Überschreitungen, die die obszöne Kehrseite der Moralordnung bilden.

Der springende Punkt, den #metoo so eindrücklich klargemacht hat, ist der Zusammenhang der beiden Seiten. Die Gesellschaft definiert sich nicht nur darüber, wo sie die Grenze zwischen erlaubt und verboten zieht. Sie funktioniert auch darüber, welches obszöne Verhalten sie im Verborgenen "toleriert" - welche Formen der Grenzüberschreitungen sie "zulässt". Genau dafür steht Harvey Weinstein. Ihre Schattenseite, ihre obszöne Kehrseite ist Teil der gesellschaftlichen Ordnung.

Die Soziologie hat schon lange gezeigt, dass Institutionen zu einer Spaltung in eine offizielle Ordnung und einen inoffiziellen Transgress neigen. Es gibt einen institutionen-internen Missbrauch. Wie man zuletzt bei den Sportinternaten gesehen hat. #metoo aber hat sichtbar gemacht, dass auch der Markt, der Arbeitsmarkt über solch eine Kehrseite funktioniert. Das offizielle Prinzip des Marktes, der Tausch, wird von dessen Schattenseite begleitet: dem "obszönen Tauschgeschäft" (Marie Schmidt in der "Zeit"). Der Neoliberalismus hat die Arbeitskraft als gesamte Person entdeckt und in Humankapital übersetzt. Dem folgt auch das Schattentauschprinzip: Job gegen sexuelle Gegenleistung. Eine punktgenaue Entsprechung.

Was diese Lektion klarmacht: Um eine gesellschaftliche Ordnung zu ändern, genügt es nicht, die Grenze zwischen erlaubt und verboten neu zu verhandeln und neu zu befestigen (etwa juristisch). Änderung wird erst dann möglich, wenn die obszöne Kehrseite zur Sprache gebracht werden kann. Genau das hat #metoo, neben allen kritisierbaren Exzessen, getan: Es hat der obszönen, unausgesprochenen Kehrseite des Tausches einen Resonanzraum eröffnet, in dem sich das bis dahin unausgesprochen Akzeptierte als Anklage vernehmbar machen konnte.

Tatsächliche Veränderung aber braucht noch weitaus mehr. Etwa das, was sich im Gefolge bei der Bewegung "Time’s Up" oder nun bei der Kampagne der Caritas #wirtun entwickelt: die Umrisse eines neuen Konzepts von Solidarität. Die Grundlage dieser Solidarität vom Filmstar bis zur Feldarbeiterin hat das Manifest von "Time’s Up" formuliert. Sie lautet: common experience. Eine gemeinsame, geteilte Erfahrung.