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Nein, nicht schon wieder", stöhnt der Taxifahrer und zeigt auf einen Zug Demonstranten, die in einer langen Reihe am Straßenrand in die Richtung ziehen, aus der wir gerade kommen. Sie laufen zielstrebig, geordnet, tragen gelbe Überzieher über ihren Jacken. MIJD steht in selbst gemalten Lettern drauf. Manche Männer halten armdicke Stöcke, andere ein paar Schilder. Viele Frauen und Kinder laufen mit ihnen. "Da haben Sie aber verdammtes Glück, dass wir schon drin sind", sagt der Taxifahrer und sieht dem Menschenzug nach. Drin? Wo drin und warum Glück gehabt und wer waren die? "Na, das waren die harten, die ganz harten Piqueteros. Wenn die jetzt die Straßen sperren, ist kein Durchkommen mehr. Wann Sie dann in die Stadt reinkommen, das weiß nur Gott allein. Aber wir haben die magische Grenze ja schon überquert", erklärt der Chauffeur und schickt einen kurzen Stoßseufzer in den trüben Himmel über Buenos Aires.
Die "harten" und die "weichen" Piqueteros
Die magische Grenze, das ist der Autobahnring General Paz um Argentiniens Metropole. Er trennt die Bundeshauptstadt Capital Federal von der Provinz Buenos Aires. Und "die harten, die ganz harten Piqueteros" sind Arbeitslose. Sie gehören zu einer Strömung innerhalb der argentinischen Arbeitslosenbewegung, zum MIJD, dem Movimiento Independiente de Jubilados y Desocupados (Unabhängige Rentner- und Arbeitslosenbewegung) von Raúl Castells und sperren die Zufahrtsstrassen zur Stadt, um ihrem Protest Ausdruck zu verleihen. Diese Art von Demonstration wird Piquete genannt, die arbeitslosen Demonstrierer Piqueteros. "Die ganz harten", klärt der Taxifahrer auf, "lassen niemanden mehr durch, die 'weichen' halten eine Spur frei und sorgen nur mit dem Stau für Ärger". Doch das sind Feinheiten, die nicht einmal die Argentinier richtig verstehen. Und auf die sie sehr unterschiedlich reagieren. Manche mit Wut, andere mit Enttäuschung, so manch einer mit Hass. An einer einst vielversprechenden sozialen Bewegung, einzig in ihrer Art, scheiden sich heute die Geister.
Ursprung im Kollaps Argentiniens im Jahr 2001
Als im Dezember 2001 Argentinien wirtschaftlich und politisch in sich zusammenbrach, schien es nichts und niemanden zu geben, der das immer größer werdende soziale Vakuum füllte. In nur einem Jahr verarmte die Hälfte der Bevölkerung. Die offiziellen Arbeitslosenquoten kletterten schnell auf 21 Prozent, die Dunkelziffer lag weit höher. Es gab keine Institution für diejenigen Massen, die plötzlich im sozialen Aus standen. Es waren die Frauen, die als erste aufstanden und anfingen, das schlichte Überleben zu organisieren. Fast alle trieb ihr Muttersein aus der Küche raus auf die Straße. "Wir haben lange genug den Kopf den Kopf gesenkt. Heute kämpfen wir für unsere Kinder. Die Männer haben sich mit ihrer Arbeitslosigkeit zuerst verkrochen. Aber wir spürten, wenn wir nichts tun, gehen wir unter. Also haben wir angefangen, uns zusammen zu tun", erinnert sich die Piquetera Eva Gutierrez.
Heute sind knapp 70.000 Arbeitslose in den verschiedenen Piqueteroströmungen organisiert. Bekannt - und nun auch umstritten - wurden sie durch die Straßensperren. Da ihnen der Streik als Druckmittel nicht mehr gegeben ist, machten sie so auf sich aufmerksam. Noch vor zwei Jahren war die Unterstützung der Piqueteros groß. Weit über die Hälfte der Argentinier hielt die Straßensperren für eine legitime Art des Protestes der Arbeitslosen. Heute sagen dies nur noch 33 Prozent der Befragten. Die Gründe für die jetzige offen gezeigte Wut auf die Piqueteros sind vielfältig.
"Letztendlich schädigen die mit ihren Piquetes nur diejenigen, die selbst zur Arbeit müssen", regt sich die Anna Espinoza auf. Die Putzfrau, die selbst aus einem ärmlichen Viertel außerhalb der Stadt kommt, steckt oft stundenlang mit dem Bus fest. "Manchmal muss ich bei meiner Arbeitgeberin übernachten, weil ich nachts nicht wieder rauskomme", erzählt die 33-Jährige.
Zu dieserer Wut kommt der Ärger über die Arbeitslosenhilfe, die sogenannten Plan Jefas y Jefes de Hogar. Jeder arbeitslose Familienvorstand erhält im Gegenzug zu einer gemeinnützigen Arbeit eine staatliche Unterstützung von 150 Pesos (43 Euro) pro Monat. Dieses Geld spielt eine wichtige Rolle in der Organisation der Piqueteros. Mit ihm werden die gemeinsamen Projekte finanziert, die geforderte gemeinnützige Arbeit dient dem Kollektiv, sei es in der von den Piqueteros betriebenen Bäckerei, im Gemüsegarten zur Selbstversorgung oder beim Nachhilfeunterricht für die Kinder. Die Auszahlung der 150 Pesos an die einzelnen Mitglieder aber ist an die regelmäßige Teilnahme an den Protestaktionen geknüpft. Ein riesiges Geschäft, so die Angst, mit der sich einzelne politische Führungskräfte ein Heer von Armen kaufen könnten, ganz nach argentinischer Tradition. Seit Jahrzehnten kontrolliert auch die peronistische Partei über soziale Zuwendungen ganze Stadtviertel.
Reiseboom und Arbeitslosigkeit
Auch der wirtschaftliche Aufschwung des Landes, der nicht mehr nur in den Hochrechnungen stattfindet, sondern vor allem in Buenos Aires auch spürbar ist, entsolidarisiert die Argentinier erneut. Über 10 Prozent Wirtschaftswachstum wurde Argentinien für dieses Jahr gar prophezeit. Schon im vergangenen Jahr entstanden eine Million neue Arbeitsplätze vor allem im Bau, im Handel und bei privaten Dienstleistungen kleiner und mittlerer Unternehmen. Damit sank die Arbeitslosenquote auf 14,4 Prozent. In einigen Bezirken von Buenos Aires schießen Läden, Cafés, Restaurants und neue Häuser nur so aus dem Boden. Zur Hauptreisezeit waren Urlaubsorte wie Mar de Plata am Atlantik komplett ausgebucht. Der Reiseboom schuf Schlagzeilen in diesem Land, das nach der Abwärtsfahrt vor drei Jahren nach Hoffnung hungert. Im medialen Massenbaden ging jedoch unter, dass trotz der Erhöhung des Etats für Soziales um fast 12 Prozent im Nationalen Haushalt noch immer die Hälfte der Argentinier in Armut lebt. Alleine 1,5 Millionen Kinder müssen arbeiten, um essen zu können. Auch das Damoklesschwert der Auslandsschulden hängt unverändert über dem Land, das 2001 seine Zahlungsunfähigkeit erklärt hatte. In nicht einmal zwei Wochen wird eine erneute Zahlung von 140 Mio. US-Dollar an den Internationalen Währungsfond (IWF) fällig. Es folgen weitere 810 Mio. US-Dollar bis September. Damit gehen von je 100 eingenommenen Pesos aus Steuergeldern alleine 15 in den Schuldendienst. Und während die Regierung von Präsident Néstor Kirchner zäh mit den Gläubigern um die Auslandsschuld verhandelt, machen die Piqueteros immer wieder auf die sogenannte Inlandsschuld aufmerksam, auf die Schuld an denjenigen Menschen hat, die durch den Ausverkauf des Landes in den prunkvollen 90-er Jahren nun ins Abseits gedrängt wurden.
Doch sind sie sich dabei uneins in ihrem Vorgehen. Während die "weichen" Piqueteros den Präsidenten offen unterstützen, halten die "harten" Piqueteros an ihrer Konfrontationstaktik fest. Beide Seiten sind so zwischen alle Fronten geraten oder haben sich hineinziehen lassen. Ein Umstand, der nun das erste Menschenleben gekostet haben könnte.
Mord als Druckmittel gegen die Regierung Kirchner?
Denn vor einer Woche wurde Martín Cisneros von der regierungsnahen Piqueterogruppe Federación Tierra y Vivienda mit sieben Schüssen in seinem Haus ermordet. Der Hauptverdächtige ist der Polizist Juan Carlos Duarte. Eine Provokation ist wahrscheinlich. Es wird angenommen, dass die Regierung von Néstor Kirchner mit diesem Tod und den möglichen Folgen unter Druck gesetzt werden soll. Der Mord an Cisneros, so eine Vermutung, sollte politische Unruhen auslösen, die Kirchners Taktik in der Öffentlichkeit diskreditieren. Denn der Peronist setzt auf Dialog mit den Arbeitslosen statt Repression ihrer Aktionen. Aus Kreisen von Eduardo Duhalde, dem parteiinternen Widersacher des Präsidenten, heißt es deshalb, Kirchner führe die Piqueteropartei. Eine Beleidigung, die jedoch den Kern der Sache trifft. Der Protest der Piqueteros ist inzwischen zum Mittel von Parteipolitik an oberster Stelle verkommen. Das eigentliche Anliegen, der Kampf gegen Arbeitslosigkeit, steht dabei schon lange im Abseits. Und die Arbeitslosen selbst sehen ohnmächtig zu, wie ihre Misere als Machtfaktor ausgespielt wird.