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Die (Ohn-)Macht des Wortes

Von Markus Kauffmann

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Markus Kauffmann , seit 22 Jahren Wiener in Berlin, macht sich Gedanken über Deutschland.

In wenigen Stunden wählen die Österreicher ihr Staatsoberhaupt. Die Deutschen dürfen das nicht. Deutsche Bundespräsidenten müssen ihre Autorität aus anderen Quellen schöpfen.


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Wer immer aus der Wahl am Sonntag als Sieger hervorgehen wird, er wird nicht besonders viel Macht in seiner Hand vereinen. Dennoch hat er mehr verfassungsmäßige Rechte als etwa der deutsche Bundespräsident. Der darf weder Notverordnungen erlassen noch den Kanzler aus eigenem Ermessen benennen, er wird nicht vom Volk gewählt und ist nicht Oberbefehlshaber der Armee. Und doch verfügt selbst er über eine "geheime Macht". Aber die besteht aus Eigenschaften, die heute selten sind: Würde, Autorität und - die Kunst der Rede.

Einer, der alle drei Eigenschaften erfolgreich in sich vereinte und vor allem die Redekunst virtuos beherrschte, feierte gerade seinen 90. Geburtstag: Richard von Weizsäcker. Deutschlands Bundespräsident in der "Wendezeit" von 1984 bis 1994 hat dem Amt mehr politisches Gewicht gegeben, als das Grundgesetz vorsieht.

Das schaffte er vor allem mit einer kunstvollen Rede. Am 8. Mai vor 25 Jahren sprach er vor dem Deutschen Bundestag zum Jahrestag des Kriegsendes. Nicht weniger als vier Monate hatte sich Weizsäcker auf diesen Auftritt vorbereitet. Würdevoll, mit zurückgenommenem Pathos, mit bedächtiger und fester Sprache beleuchtete der erste Mann im Staat die Stunde der Kapitulation aus den verschiedensten Blickwinkeln: Ende und Anfang vom Leid für viele Millionen.

Die Wirkung der Rede war gewaltig: Als "Sternstunde der deutschen Nachkriegsgeschichte" gepriesen, ebnete sie den Weg für den ersten Staatsbesuch eines deutschen Bundespräsidenten in Israel. Sie wurde in mehr als 20 Sprachen übersetzt und in einer Auflage von über zwei Millionen Exemplaren gedruckt sowie auf Tonträger gespielt. Mehr als 60.000 Briefe gingen dazu im Präsidialamt ein.

Nur wenige Jahre später saß ich wieder wie gebannt vor dem Fernseher, um eine Rede des damaligen Bundestagspräsidenten Philipp Jenninger zu hören, der sich gleichfalls mit der Nazizeit auseinandersetzte.

Ich gestehe, dass mich die Rede des bullig wirkenden Schwaben weitaus tiefer berührt, ja ins Mark getroffen hatte als die Weizsäckersche. Jenninger hatte in einer Kaskade rhetorischer Fragen den Deutschen den Spiegel vors Gesicht gehalten - nicht vom Podest erhabener Moral aus, sondern auf Augenhöhe mit den Verführten, Betrogenen, Benutzten. Anders als Weizsäcker hatte der Bundestagspräsident nicht abgewogen und ausgeglichen, kein "Sowohl-als-auch" vorgetragen, sondern einen hochnotpeinlichen Beichtspiegel.

Da inszenierten plötzlich einige Abgeordnete der Grünen einen Eklat, indem sie laut rufend den Plenarsaal verließen. Unterstützt von eilfertigen Medien wurde diese eindringliche Rede zum Skandal umgemünzt. Es erhob sich ein unglaublicher Proteststurm - vornehmlich von Leuten, die die Rede nicht kannten. Tags darauf war Jenninger nicht mehr im Amt. Martin Walser schrieb dazu: "Die Zuhörer haben durch ihre Reaktionen den Skandal bewirkt. Unverabredet, lauter ehrenwerte, höchst zuständige Zeitgenossinnen und Zeitgenossen. Eine Art

unwillkürlicher politisch-moralischer Lynchstimmung muss da aufgekommen sein." Am Text konnte es nicht gelegen haben, denn ein Jahr später hatte der Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland, Ignatz Bubis, weite Passagen der Jenninger-Rede übernommen,

ohne jede Aufregung im

Publikum.

Die große politische Rede - für den einen ein Höhepunkt in seinem Leben, für den anderen das Ende seiner Karriere. Tragisch, dass beide Reden zu den besten gehören, die jemals zum Thema gehalten wurden.