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Die Ökonomisierungs-Falle im Arztberuf

Von Gerald Michael Radner

Gastkommentare
Gerald Michael Radner ist Referent für Arzthaftung der Wiener Ärztekammer und Autor der Broschüre "Die Rechte des Arztes" (Verlag Trauner, 30 Euro). Foto: Christian Jungwirth

Ein Mediziner hat die beste Therapie zu verordnen - und die Krankenkassen haben die Kosten dafür zu übernehmen.


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Die österreichische Rechtsordnung verpflichtet jeden Arzt, jeden Patienten lege artis - also nach dem neuesten Stand der medizinischen Wissenschaften - zu behandeln. Die soziale Krankenversicherung ist verpflichtet, diese Behandlungskosten zu übernehmen, damit nach Möglichkeit die Gesundheit, die Arbeitsfähigkeit und die Fähigkeit, für die eigenen Bedürfnisse zu sorgen, wiederherstellt, gebessert oder gefestigt wird. Nach Möglichkeit bedeutet: mit allem, was möglich ist, also mit der besten Medizin.

Dieses Zusammenspiel zeichnet Österreichs Gesundheitssystem als das weltbeste aus. Die Erfahrung hat aber auch gezeigt, dass die beste Medizin auch auf lange Sicht die kostengünstigste ist. Die Therapiefreiheit ist die Grundlage für das ärztliche Behandeln. Zweifellos bewegt sich diese Maxime im Spannungsfeld aktueller ökonomischer, politischer und gesellschaftlicher Interessen. Strebt doch gerade die permanente Finanzierungskrise öffentlicher Haushalte und damit auch des sozialen Gesundheitssystems nahezu reflexhaft nach Regelmechanismen, um die Ärzte ökonomisch zu domestizieren. Damit werden die Probleme jedoch nicht gelöst, sondern verschärft.

Maximum an Freiheit, Flexibilität und Vertrauen

Die kasuistische Unterwanderung der ärztlichen Therapiehoheit hat gar viele Gesichter. Sie betreffen die Rahmenbedingungen im Spital ebenso wie jene der Niederlassung und fokussieren primär auf die Einhaltung budgetärer Ziele. Doch die Erbringung ärztlicher Leistungen, deren Quelle Wissen, Erfahrung und die intensive Befassung mit Persönlichkeit und Befindlichkeit eines Patienten sind, erfordert ein Maximum an Freiheit, Flexibilität und ein hohes Maß an Vertrauen in die Ärzteschaft.

Daher ist es mehr denn je geboten, die Freiheit des Arztberufes - ob im Krankenhaus oder in der Praxis - gesellschaftlich anzuerkennen. Nur unter dieser Voraussetzung können Ärzte ihre Verantwortung seriös wahrnehmen. Die Erwartungshaltungen an den Arzt sind so groß wie vielschichtig:

Der Patient will möglichst rasch ohne Unannehmlichkeit vollkommen gesund werden und erwartet, dass der Arzt alles weiß, alles kennt und alles kann.

Die Gesundheitspolitik erwartet, dass der Arzt dies alles in kürzester Zeit mit geringsten Mittel, vielleicht sogar kostenfrei bewältigt.

Der Jurist und die Gerichte erwarten, dass sich der Arzt für jeden einzelnen Patienten viel Zeit nimmt, um ihn über den Krankheitszustand so aufzuklären, dass sich der Patient wie nach einem Medizinstudium auskennt. Selbstverständlich wird vorausgesetzt, dass der Arzt dabei alle Facetten des Rechts beachtet.

Die Dokumentation über die Aufklärung und den Therapieverlauf hat dann mit größter Sorgfalt so ausführlich zu erfolgen, dass in einem Haftungsprozess alles minutiös selbst für Dritte als Laien nachverfolgt werden kann. Wobei ein hochspezialisierter Sachverständiger nach oft monatelangem Studium des Falles im Nachhinein prüft, wie ein sorgfältiger Durchschnittsarzt in kürzester Zeit hätte handeln sollen.

Die Medizinprodukteindustrie erwartet, dass der Arzt alle technischen Errungenschaften beherrscht, diese anschafft beziehungsweise verordnet und immer auf den neuesten Stand der medizinischen und technischen Errungenschaft.

Die Krankenversicherungsträger erwarten, dass der Arzt den Patienten möglichst effektiv in der intra- und extramuralen Versorgung durch das sich immer mehr verkomplizierende System führt.

Verunsicherung der Ärzte durch die "Arroganz Gesunder"

Das Erstaunliche dabei ist - es gelingt. Der Arzt wird diesen Erwartungen weitgehend gerecht; dies jedoch um den Preis einer intensiven, anstrengenden und aufreibenden Berufsausübung mit weitestgehendem Verzicht auf Freizeit und Familienleben, ständig unter dem Damoklesschwert der Existenzbedrohung wegen behaupteter Behandlungsfehler, die - vor allem, wenn sie öffentlich gemacht werden - zu Dienstfreistellungen und zum Verlust der Berufsausübung führen können. Der Arzt ist in einer wahren Ökonomisierungsfalle gefangen.

Unter den Ärzten herrscht eine große Verunsicherung, vor allem, weil sie über ihre rechtlich abgesicherten Möglichkeiten ihres Berufes vielfach zu wenig Bescheid wissen, diese nie im vollen Umfang erfahren haben. Dabei hat ihnen die Gesellschaft die rechtliche Garantie für ihre Berufsausübung zugestanden.

Es ist der Wille der Gesellschaft - nicht erst seit der griechischen Antike, sondern schon viel früher -, dass der Arzt seinen Beruf frei und unbeeinträchtigt von Einflüssen Dritter zum Wohle seines Patienten ausüben kann. Der Arzt ist engster und intimster Vertrauter des Patienten. Die Gesellschaft hat dies in den Gesetzen - das sind eben die Regeln für das Zusammenleben, die durch die gesetzgebenden Körperschaften geschaffen wurden - vorgegeben. Es braucht keinerlei Änderung der bestehenden Gesetze, um dem Arzt diese Garantien für seine Berufsausübung zu sichern. Der Arzt braucht sie nur zu kennen und auf dieser Basis seinen Beruf auszuüben.

Wenn Außenstehende aus ökonomischen Gründen in dieses Arzt-Patienten-Verhältnis Einfluss nehmen wollen, so ist dies oftmals eine "Arroganz von Gesunden", die sich spätestens dann, wenn sie selbst oder nahe Angehörige ärztliche Hilfe benötigen, ins Gegenteil verkehrt.

Der Arzt haftet für die Behandlung des Patienten

Der Arzt kann sich nicht dadurch exkulpieren, dass er veranlasst wurde, nicht die aussichtsreichste, sondern eine kostengünstige Therapie zu verordnen. Die Verantwortung und Haftung liegt ganz alleine bei ihm, und daher braucht er auch für seine Entscheidungen die Therapiefreiheit. Die Broschüre "Die Rechte des Arztes" soll Ärzten helfen, die Sicherheit der Therapiefreiheit zu gewährleisten und ihr berufliches Selbstbewusstsein zu sichern, um Eingriffsversuchen und Einflussnahmen entgegenzutreten oder sie gar nicht entstehen zu lassen.

Seit jeher steht die Arzt-Patienten-Beziehung unter einem besonderen Schutz vor Einflüssen Dritter und von außen. Eine vertrauensvolle und enge Arzt-Patienten-Beziehung ist auch die beste Voraussetzung für eine Therapie und soll dem Arzt zudem Freude und Sicherheit an der Ausübung seines Berufs bringen. Er soll sich selbstbewusst auf seine Hauptaufgabe besinnen können. Diese besteht darin, durch selbstbewusstes Auftreten und Handeln auf Basis der Diagnose- und Therapiehoheit vor allem im Interesse der Patienten die beste Behandlung sicherzustellen. Denn wie der einstige allseits anerkannte Wiener Patientenanwalt Viktor Pickl sagte: "Rechtssicherheit schafft Sicherheit im Beruf."