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Die zivilisierte Welt steht an einem Scheideweg, denn die Menschen kündigen den Gesellschaftsvertrag auf, indem sie die Spielregeln des Systems außer Kraft setzen.
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Krawalle in London, Birmingham, Liverpool und Manchester. Massenproteste in Israel für soziale Gerechtigkeit. Entlang der Arabischen Straße lodert ein Freiheitskampf. In Griechenland wüten Proteste gegen den Ausverkauf des Sozialstaates. Friedliche Demonstranten fordern in Madrid mehr Chancengleichheit. Die Feuer der Ausschreitungen in Pariser Vororten glimmen noch. Derweil implodieren die Aktienbörsen - und die Spekulanten schwelgen in Champagnerlaune.
Die Symbiose von Politik und Wirtschaft offenbart ihre Schwachstelle: Es fehlt die moralisch-soziale Zwischendecke. Der Arabische Frühling ist in Nahost erblüht, doch der Samen des Aufbegehrens verbreitet sich unaufhaltsam um den Globus aus. Die alten Machtgefüge halten der unglaublichen Nachrichtengeschwindigkeit in den sozialen Foren nicht mehr stand. Es ist noch nicht lange her, da ging es ausschließlich darum, wie Israel auf die Veränderungen in seinen strategischen Sicherungsallianzen reagieren soll. Despoten wie Bashar al-Assad profitieren (noch) von diesem Denken. Nun zieht sich der Protest bereits durch Tel Avivs Straßen. 300.000 Menschen fordern mehr soziale Gerechtigkeit - mit Plakaten, auf denen steht: "Marschiert wie die Ägypter!" Eine unglaubliche Mobilisierungskampagne, die keine Grenzen mehr akzeptiert. Noch friedlich und mit der Versicherung, es gehe nicht darum, die Regierung von Benjamin Netanyahu zu stürzen. Allein der Hinweis ist verräterisch.
Der Bürger stellt Bedingungen, das ist neu. Vielschichtige soziale Netzwerke erlauben dabei Effizienz und Nachdruck, denn das Protestpotenzial lässt sich bündeln und wirkungsvoll lenken - aber auch missbrauchen, das darf nicht verschwiegen werden. Die Mobilisierung vollzieht sich virtuell und entzieht sich der Kontrolle, das macht den Protest unkalkulierbar und messerscharf.
Kein Machtzentrum ist sicher vor politischen Eruptionen. Es klingt pathetisch, aber: Die Menschheit läutet ein neues Zeitalter ein. Mit zunehmender Vernetzungsdichte des Protests entgleiten den politischen Eliten die Handlungsfäden immer schneller. Sie haben der öffentlichen Empörung nichts mehr entgegenzusetzen - außer leeren Versprechungen. Wir erleben eine Online-Revolution der Völker.
Diese lassen sich nicht mehr von politischer Zauberrhetorik blenden. Sie fordern letztlich die Prinzipien der Französischen Revolution: "Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit." Beschwichtigungsrhetorik ist für sie nichts als Scheinkampf des Machterhalts. Sie fordern Beachtung für ihre Probleme, Gerechtigkeit und Ehrlichkeit, keine Machtpolitik, die um ihrer selbst willen den Diskurs bestimmt. Die Lunte brennt. Die Frage ist nur: Geht das Pulverfass hoch oder nicht? Wie wird der Wandel sich vollziehen: gewaltvoll oder gewaltfrei? Englische Verhältnisse kann niemand wollen. Auch wenn die Geschichte belegt: Bevor etwas Neues entstand, wurde immer zuerst das Alte zerstört. Entscheidend ist, wohin der Protest die Politik drängt. Die Verantwortung liegt bei den Bürgern. Das stimmt hoffnungsvoll!
Alexander Decken ist außenpolitischer Redakteur in Bremen.
Dieser Gastkommentar gibt ausschließlich die Meinung des betreffenden Autors wieder und muss sich nicht zwangsläufig mit jener der Redaktion der "Wiener Zeitung" decken.