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Wenn heute der spanische König Juan Carlos im Beisein internationaler Gäste und der spanischen Regierung im Madrider Retiro-Park den "Wald der Abwesenden" aus 192 Zypressen und Olivenbäumen einweiht, der im Gedenken an die 191 Opfer der Anschläge vom 11. März des Vorjahres und den beim Selbstmord der Bombenleger umgekommenen Polizisten errichtet wurde, werden die Angehörigen der Getöteten und die nahezu 2.000 Opfer abwesend sein.
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"Für uns wird der Gedenktag ein Tag des Schweigens sein" sagte die Präsidentin der Vereinigung der Terroropfer, Pilar Manjon, die bei den Anschlägen vor einem Jahr ihren 20-jährigen Sohn verloren hat. Sie hat bereits bei ihrem berührenden Auftritt vor der parlamentarischen Untersuchungskommission im Dezember den Politikern vorgeworfen, die Tragödie für ihre Zwecke ausnutzen zu wollen und in einer Pressekonferenz am Dienstag auf schwere Versäumnisse gegenüber den Opfern und ihren Angehörigen hingewiesen.
Die Angehörigen haben sich auch vergeblich dagegen ausgesprochen, dass ab 7.37 Uhr - als vor einem Jahr die erste Bombe in einem Vorortezug explodierte - fünf Minuten lang die Glocken aller 650 Kirchen in Madrid und Umgebung läuten werden. "Ich will nicht mit Kirchenglocken daran erinnert werden, dass genau in diesen Minuten vor einem Jahr der Körper meines Sohnes in Stücke gerissen worden ist" sagte die Mutter eines bei den Anschlägen Getöteten.
Mit Schweigeminuten auf den Bahnhöfen Atocha, Santa Eugenia und El Pozo gedenkt das offizielle Spanien der schwersten Attentatsserie seiner Geschichte, die vor einem Jahr - drei Tage vor den Parlamentswahlen - das Land erschüttert hat.
Spur führte rasch zu islamischem Terror
Unmittelbar nach den Anschlägen hatte der damalige Ministerpräsident Jose Maria Aznar die baskische Terrororganisation ETA der Urheberschaft beschuldigt und die Chefredakteure der großen spanischen Zeitungen dahingehend informiert. Obwohl schon wenige Stunden nach den Attentaten eine heiße Spur zu islamischen Terroristen führte, hielt die Regierung bis zum Vorabend der Wahl an dieser These fest. Erst als ein Bekennervideo auftauchte, musste Innenminister Angel Acebes eingestehen, dass die ETA-Spur nicht hielt. Das hinderte Ex-Premier Aznar aber nicht daran, vor dem parlamentarischen Untersuchungsausschuss in Madrid neun Monate später noch immer auf eine mögliche Beteiligung der ETA hinzuweisen.
Millionen marschierten gegen den Terror
Die Spanier reagierten mit einer enormen Welle der Solidarität auf die blutigen Anschläge. Einen Tag nach den Attentaten gingen - auf Anregung von Ministerpräsident Aznar - im ganzen Land fast 12 Millionen Menschen auf die Straßen, um gegen den Terror zu protestieren. In der ersten Reihe der Manifestation in Madrid standen neben Aznar Oppositionsführer Jose Luis Rodriguez Zapatero und Kronprinz Felipe mit seinen beiden Schwestern Elena und Christina.
Als am Abend vor den Wahlen deutlich wurde, dass die ETA-Spur, auf der die Regierung beharrt hatte, falsch war, versammelten sich tausende Demonstranten vor dem Hauptquartier der regierenden Volkspartei und verlangten die Wahrheit. Aus den Wahlen gingen bei einer überaus hohen Beteiligung die oppositionellen Sozialisten als Sieger hervor, die ihr Wahlversprechen, die spanischen Truppen aus dem Irak zurückzuziehen, unmittelbar nach der Regierungsübernahme erfüllten.
Untersuchungsausschuss über Hintergründe
Im spanischen Parlament wurde ein Untersuchungsausschuss zur Durchleuchtung der Hintergründe der Anschläge eingesetzt, der rechtzeitig zum Jahrestag seinen Schlussbericht vorlegte. Die jetzt oppositionelle Volkspartei versagte jedoch ihre Zustimmung zu diesem Bericht, obwohl aus dem Entwurf all jene Passagen gestrichen worden waren, die als Kritik am seinerzeitigen Regierungschef Jose Maria Aznar ausgelegt hätten werden können. Schon während der Ausschuss tagte, hatte sich abgezeichnet, dass die Regierung vor allem an den Versäumnissen ihrer Vorgängerin in der Terrorismusbekämpfung interessiert war, während die Volkspartei die Rolle der Sozialisten bei den Anti-Regierungssprotesten am Vorabend der Wahlen untersucht wissen wollte. Das Taktieren der Politiker stieß vor allem bei den Angehörigen der Opfer auf Empörung. "Sie meine Herrschaften, haben über sich gesprochen, wir, die Familien waren nicht vorhanden" hatte Pilar Manjon in ihrem Auftritt vor dem Ausschuss bitter festgestellt.