Die UN-Menschenrechtskommissarin Navi Pillay über das Scheitern der Weltgemeinschaft im Syrien-Konflikt.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 11 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
"Wiener Zeitung": Zeigt sich nicht etwa im Syrien-Konflikt, dass es bei Menschenrechten oft nur um Lippenbekenntnisse geht? Die internationalen Akteuren scheinen vielmehr geopolitische Interessen im Auge zu haben, als dass sie das Leiden der Zivilbevölkerung tatsächlich beenden wollten.
Navi Pillay: Syrien ist ein Beispiel für das Scheitern der internationalen Gemeinschaft. Es war ein Test, und die Weltgemeinschaft hat versagt, 93.000 Leben zu retten. Ich muss aber gleichzeitig betonen, dass es der UNO auch schon gelungen ist, zu intervenieren und Frieden zu erreichen - so gibt es etwa seit kurzem in Mali ein Friedensabkommen.
Welche Schritte sollten nun gesetzt werden? In der Debatte, ob die Rebellen besser ausgerüstet werden sollen, haben Sie sich ja gegen Waffenlieferungen ausgesprochen.
Militärische Interventionen fallen nicht unter mein Mandat. Aber ich sage ganz klar: Waffenlieferungen an die beiden Seiten dieses Konflikts wird diesen nur verschlimmern, und die Zivilisten sind die Gefangenen der Kämpfe. Niemand kennt außerdem die wahre Identität der Oppositionskräfte. Ich unterstütze den Aufruf von UN-Generalsekretär Ban Ki-moon, die Genfer Gespräche (Verhandlungen zwischen den Akteuren in Syrien mit internationaler Beteiligung, Anm.) erneut aufzunehmen.
Ist Syrien nicht auch ein Test, wie weit Menschenrechtsverletzungen verfolgt werden?
Dass die Verbrechen verfolgt werden, dazu habe ich immer wieder aufgerufen. Und zwar auf der Grundlage von Fakten. In Syrien werden etwa Kriegsverbrechen begangen, Kinder werden zwangsrekrutiert. Mein Aufruf erfolgte im Namen der Opfer. Sie haben einen Anspruch auf Gerechtigkeit und Entschädigungen, sie haben das Recht, die Täter verfolgt zu sehen. Wir wollen auf keinen Fall, dass Straflosigkeit Teil der Verhandlungen zur Lösung des Konflikts wird.
Das ist ein oft vorgebrachtes Argument von Realpolitikern: dass politische Lösungen wichtiger als Strafverfolgung sind. Nach dieser Argumentation hätte der Internationale Strafgerichtshof nie Haftbefehl gegen Sudans Präsidenten Omar al-Bashir, der des Völkermords beschuldigt wird, beantragen sollen. Denn nun kann man kaum noch mit ihm verhandeln.
Wie soll man dauerhaften Frieden erreichen, wenn man Deals mit Leuten abschließt, die etwa des Völkermords verdächtigt werden? Das ist unmöglich, und das ist auch kaum das, was sich Bevölkerungen wünschen. Und der Internationale Strafgerichtshof existiert ja, damit er abschreckend wirkt. Er soll der Praxis ein Ende setzen, dass Diktatoren ungestraft Verbrechen begehen.
Wo sehen Sie sonst derzeit Entwicklungen, die Ihnen besondere Sorge bereiten?
Es gibt noch immer eine ungeheure Armut in der Welt. Allen Menschenrechten muss Beachtung geschenkt werden, und das beinhaltet auch ökonomische und soziale Rechte. Man wird keine Freude haben an dem Recht, seine Regierung selbst zu wählen, wenn man arm und hungrig ist, wenn einem das Recht auf Nahrung genommen ist. Ich bin besorgt, dass in der gegenwärtigen Finanzkrise Regierungen Austeritätsprogramme beschließen und Einsparungen durchführen, die die Schwächsten treffen. Also die Armen, Frauen, Einwanderer und Minderheiten. Zudem wünsche ich mir weltweit große Aufmerksamkeit bei Menschenrechtsverbrechen, etwa was Frauen bei sexueller Gewalt angetan wird, was Menschen in Konflikten durchmachen. Die Beobachtung der Menschenrechtssituation kann ja auch sehr dazu beitragen, zu alarmieren, wenn gefährliche Gemengelagen in einen größeren Konflikt zu münden drohen.
Konzentrieren wir uns generell in der Menschenrechtsdebatte nicht zu sehr auf Staaten und lassen etwa multinationale Konzerne zu sehr außer Acht?
Zuerst einmal muss gesagt werden: Es geht nicht immer nur um Staaten, viele Menschenrechtsverletzungen werden etwa von Rebellengruppen begangen. Das internationale Recht hat klare Richtlinien, dass sie genauso verantwortlich sind. Was internationale Konzerne betrifft, begrüße ich sehr die Arbeit des Menschenrechtsrates, der erstmals klare Richtlinien formuliert hat - besonders in Bezug zu transnationalen Unternehmen, im Bergbaubereich oder bei der Ausbeutung von Rohstoffen. Zum Beispiel gibt es eine Deklaration zu den Rechten von indigenen Völkern, die klar definiert, dass man Einverständniserklärungen von ihnen benötigt, bevor man ihr Land erschließt. Das ist ganz anders, als wie die Situation war und heute auch noch oft ist, leider sehen sich Indigene immer wieder von ihrem Land vertrieben. Schutzmechanismen beginnen sich nun langsam zu entwickeln.
Aber haben wir auch Institutionen, welche Konzerne belangen können?
Die Konzerne fallen genau so wie Individuen unter nationales und internationales Recht. Aber es stimmt, es kommt selten zu Strafverfolgungen.
Navi Pillay ist seit dem 1. September 2008 Hohe Kommissarin der UNO für Menschenrechte. Zuvor war die 71-jährige Südafrikanerin Richterin am Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag. In ihrer Heimat war sie während der Apartheid als Anwältin aktiv, wobei sie als Tamilin selbst diskriminiert wurde. In Wien ist sie aus Anlass der vom Außenministerium initiierten Menschenrechtskonferenz "Vienna+20" zu Gast, die heute, Donnerstag, und am Freitag stattfindet.