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Die Palaststimme der Unterdrückten

Von Klaus Huhold

Politik

Erdogan strebt ein Präsidialsystem an - das Teil seiner Mission ist, die Türkei kräftig zu verändern.


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Istanbul. Die große Bühne ist nun nicht mehr seine Heimat. Ahmet Davutoglu wird nicht mehr nach Brüssel reisen, um dort Angela Merkel die Hand zu schütteln und als Spitzenvertreter der Türkei die Interessen seines Landes zu vertreten. Mit seinem Rückzug als Premier, den er diese Woche angekündigt hat, wird der ruhige, abwägende Universitätsprofessor sein Dasein künftig als einfacher Abgeordneter im türkischen Parlament fristen.

Davutoglu gab nicht freiwillig auf, vorangegangen war ein Zerwürfnis mit Recep Tayyip Erdogan. Dem polternden Präsidenten war der Premier offenbar zu eigenständig, zu eigenwillig geworden. Dabei hatte Erdogan selbst im Sommer 2014beim Amtsantritt seines Gefährten aus der religiös-konservativen Partei für Gerechtigkeit und Fortschritt (AKP) noch von einem starken Präsidenten und einem starken Premier gesprochen. Doch tatsächlich scheint Erdogan ein Charakter, der in sämtliche Entscheidungen - auf personeller oder politischer Ebene - eingebunden sein und dabei auch das letzte Wort haben will.

"Erdogan sieht den Premier eher als eine Art Manager, als einen Projektkoordinator", sagt der Politologe Cengiz Günay vom "Österreichischen Institut für Internationale Politik" der "Wiener Zeitung". Sobald der Ministerpräsident sein Amt selbst gestalten und selbst Entscheidungen treffen will, kommt es demnach zwangsläufig zum Konflikt mit Erdogan.

Davutoglu fungierte als Erdogans Berater und diente unter ihm als Außenminister. Günay erinnert daran, dass er ein treuer Gefolgsmann von Erdogan war, Deswegen steht nicht fest, dass sein Nachfolger nie in Streit mit Erdogan geraten wird. Als mögliche Kandidaten gelten derzeit Binali Yildirim, der derzeit das Verkehrsministerium leitet, und Energieminister Berat Albayrak. Yildirim ist ein enger Vertrauter des Präsidenten, Albayrak ist gar einer seiner Schwiegersöhne.

Referendum angekündigt

Doch Erdogan will ohnehin schon vorsorgen, dass er gar nicht mehr Gefahr läuft, sich mit einem unbotmäßigen Premier herumschlagen zu müssen. Er hat am Freitag verkündet, dass er möglichst bald ein Referendum über eine Verfassungsänderung zur Einführung eines Präsidialsystems abhalten lassen will. Nur ein Präsidialsystem sei eine "Garantie für Stabilität und Sicherheit", verkündete der Staatschef. Die entsprechende Verfassungsänderung müsse die neue AKP-Regierung "so schnell wie möglich zur Bestätigung unserem Volk vorlegen".

Damit setzt der Mann, der in einem Istanbuler Hafenviertel in bescheidenen Verhältnissen aufgewachsen ist, den nächsten Schritt auf seiner Mission, die Türkei ordentlich zu verändern. Erdogan betrachtet sich selbst offenbar "als historische Führungsperson", sagt Günay.

Denn: Konservative und gläubige Bürger standen früher am Rande der Türkei, waren etwa von hohen Ämtern im Staat ausgeschlossen. Das mächtige Militär und die einst herrschenden Parteien, die sich in der Nachfolge von Republiksgründer Kemal Atatürk sahen, wollten der Religion keinen Platz im Staatswesen geben. "Erdogan sieht sich als Speerspitze einer Bewegung gegen diese autoritäre Säkularisierungspolitik", analysiert Günay. Damit rechtfertigt Erdogan seine eigenen Handlungen - "und sieht dabei nicht, wie autoritär er selbst agiert."

Es ist das Paradox an Erdogan: Mit zorniger Rhetorik inszeniert er sich als Anführer einer Anti-Establishment-Bewegung - dabei ist er selbst längst das Establishment. In seiner Heimat macht ihn das populär. Für seine Anhänger ist der mittlerweile in einem Palast residierende Erdogan laut Günay nämlich tatsächlich der Repräsentant einer einst unterdrückten Bevölkerungsschicht. Und auch dass er die Türkei als Stimme der unterdrückten Muslime inszeniert, schadet ihm nicht.

Deswegen ist die AKP auch von Erdogan abhängig - denn sie ist stark auf seine Popularität angewiesen. Zudem hat Erdogan durch seinen starken Einfluss bei Postenbesetzungen die Partei auf Linie gebracht. Die Auseinandersetzung mit Davutoglu hat wieder einmal verdeutlicht, wer in der Türkei das Sagen hat. Erdogan hat, auch wenn er das offiziell das anders darstellt, den Premier und AKP-Vositzenden aus dem Amt gedrängt. "De facto", sagt Günay, "ist das Land schon eine Präsidialrepublik."