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Die Pandemie als föderale Zerreißprobe

Von Daniel Bischof

Politik
© WZ-Illustration

Streit um Tirol, erboste Landespolitiker, gescheiterte Corona-Ampel: Ist der Föderalismus der Pandemie nicht gewachsen?


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Die alten Risse zwischen Bund und Ländern klaffen wieder auf. Nicht nur der Streit um Tirol geriet zur föderalen Kraftprobe. Landespolitiker lehnen sich zunehmend gegen den Bund, der vielfach mit Wien gleichgesetzt wird, auf.

"Wir machen oft die Erfahrung, dass man mancherorts in Wien sehr viel kommentiert. Wir in den Ländern können nicht kommentieren, wir müssen agieren", sagte Oberösterreichs Landeshauptmann Thomas Stelzer zur "Presse". Der Nationalratsabgeordnete Franz Hörl (ÖVP) krachte wegen der Reisewarnung für Tirol gar mit seiner eigenen Partei zusammen: "Ich bin entsetzt. Das ist für mich eine völlige Überraschung, dass die Republik das wichtigste und größte Tourismusland mit einer Reisewarnung belegt", sagte er in der "Zeit im Bild".

Als Negativbeispiel für die Zusammenarbeit kann auch die gescheiterte "Corona-Ampel" genannt werden. Regionale Differenzierungen sollten rasche Abhilfe bei Corona-Ausbrüchen schaffen und Österreich durch die Herbst- und Wintermonate bringen. Doch Länder und Gemeinden nahmen es persönlich, wenn sie auf Rot oder Orange umgestuft wurden. Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) zog bundesweite Maßnahmen dann doch lieber lokalen Lösungen vor. Die Ampelschaltungen gingen in der zweiten Welle vollends unter.

Ist Österreichs Föderalismus der Pandemie nicht gewachsen?

Es habe zwar Probleme gegeben, sagt Peter Bußjäger, Föderalismusforscher und Verwaltungsrechtler an der Uni Innsbruck. "Bei der Ampel sind die Länder mit zu wenig Mut in die Sache gegangen. Da hätten sie früher und energischer reagieren müssen. Und der Bund hätte die Ampel schneller vorbereiten können." In der Praxis sei die Zusammenarbeit bis zu den jüngsten Ereignissen aber "nicht so schlecht abgelaufen", sagt Bußjäger. Die Impforganisation durch die Bundesländer etwa funktioniere gut: "Da mangelt es ja nicht an Organisation, sondern an Impfstoffen."

Der Streit um Tirol sei nun "eine schwere Belastung für den Föderalismus", erklärt Bußjäger. Einerseits habe Tirol den Dialog eskalieren lassen: "Was da Personen aus der zweiten Reihe geäußert haben, war nicht förderlich." Andererseits sei der Bund unschlüssig gewesen: "Das lange Hin und Her war problematisch." Zwar sei es gut, wenn der Gesundheitsminister versuche, mit den Ländern Kompromisse zu schließen: "Aber das ändert nichts an seiner Verantwortung. Wenn der Landeshauptmann nichts mit seinem rechtlichen Instrumentarium macht, muss er übernehmen."

Übermacht des Bundes

Bereits vor der Pandemie hatte der Bund in Österreich rechtlich eine beherrschende Stellung. Das Bundes-Verfassungsgesetz ordnet ihm die wichtigsten und meisten Kompetenzen zu. Die Bedeutung des Bundesrats, der Länderkammer im Parlament, ist gering. Und anders als in Deutschland hat der Bund die Gewalt über die Polizei.

Durch die Pandemie ist diese Machtfülle gewachsen. Das Covid-19-Maßnahmengesetz und Epidemiegesetz räumen dem Gesundheitsminister imposante Befugnisse ein. Per Verordnung kann er so ziemlich alles beschränken, was es zu beschränken gibt: Veranstaltungen, den Verkehr, die Bewegungsfreiheit.

"Die Macht des Bundes dominiert in der Pandemie", sagt Bußjäger. So kann der Gesundheitsminister gegen den Willen Tirols das Bundesland isolieren. Dennoch könne er nicht vollends schalten und walten, wie er wolle.

"Der Bund kann die Maßnahmen zwar rechtlich anordnen. Umsetzen müssen die aber vielfach die Bezirksverwaltungsbehörden als Gesundheitsbehörden", sagt Bußjäger. Die Bezirksbehörden sind organisatorisch dem Landeshauptmann oder bei Städten mit eigenem Statut dem Bürgermeister unterstellt. Daher müsse der Bund grundsätzlich ein gutes Einvernehmen mit den Ländern anstreben.

So wie vor der Pandemie prägen daher Verhandlungen das Verhältnis zwischen Bund und Ländern. Über informelle Kanäle werden Kompromisse ausgelotet. Die Landeshauptleutekonferenz und Landesamtsdirektorenkonferenz sind rechtlich zwar nicht institutionalisiert, aber mächtig. Auch Bünde und andere Interessenvertretungen sichern durch ihren Einfluss auf die Parteien die faktische Macht der Länder ab.

Das zähe Verhandeln kann sich in einer Pandemie aber rächen. "Föderalismus beruht auf Machtteilung. Damit kann man eine tägliche Verwaltung betreiben, aber in einer Pandemie ist das eine Herausforderung", sagt Bußjäger.

Ähnliche Debatten gibt es in anderen Staaten, etwa in Deutschland. Wobei die Anzeichen hier umgekehrt sind: Den 16 Bundesländern kommt eine wesentlich stärkere Rolle als in Österreich zu. Bei der Corona-Pandemie sind sie für das Setzen der allermeisten Maßnahmen zuständig. "Rechtlich ist der Bund in Deutschland in einer deutlich schwierigeren Lage", so Bußjäger.

Bereits während der ersten Welle im vergangenen Frühjahr wurde über den föderalen Fleckerlteppich in Deutschland gestritten. Und auch während der zweiten Welle hat Bundeskanzlerin Angela Merkel nun Müh und Not, die Länder auf gemeinsame Maßnahmen einzuschwören. "Ich bin keine nachgeordnete Behörde des Kanzleramts", tönte etwa Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow.

"Staat ist keine Milchkuh"

Die aktuellen Tücken zeigt im deutschen Nachrichtenmagazin "Cicero" Mathias Brodkorb auf. Der SPD-Politiker war acht Jahre lang Minister - zunächst für Bildung, dann für Finanzen - im Land Mecklenburg-Vorpommern. "Diskurse und Entscheidungen in komplexen Institutionen erfordern eine Ressource, die in einer pandemischen Ausnahmesituation nicht zur Verfügung steht. Und das ist Zeit", schreibt er.

Zunächst dauere es Wochen, bis Bund und Länder sich einigen. "Und dann dauert es mitunter nur wenige Stunden, bis einzelne Länder aus dem mühsam gefundenen Kompromiss wieder ausbrechen." Dabei seien "Demokratie und Geschwindigkeit, Demokratie und effizientes Staatshandeln" keine Widersprüche, so Brodkorb.

Um Abhilfe zu schaffen, müsse erstens die Bürokratie zurechtgestutzt werden. Gerade durch die europäische Integration habe der Umfang an Gesetzen, Verordnungen und Erlässen ungeahnte Ausmaße angenommen. Zweitens müssten die Entscheidungsstrukturen vereinfacht und rechtlich abgesichert werden, meint Brodkorb. Drittens brauche Deutschland "mehr politische Führung und weniger bloße Moderation". Der Staat müsse sich gegen überbordende Ansprüche wehren. Er sei keine Milchkuh, "an deren Zitzen sich allerlei Partikularinteressen laben können, sondern hat in unser aller Interesse dem Gemeinwohl zu dienen".

Mehr Mut und Strukturen

Auch Bußjäger fordert in Österreich ein mutigeres, schnelleres Vorgehen des Bundes - wenn es notwendig ist, "dann muss er auch sein Instrumentarium anwenden und rechtlich verbindliche Anordnungen erlassen".

Zugleich müsse die Abstimmung zwischen Bund und Ländern beschleunigt werden: "Die herkömmliche Praxis ist, dass der Sektionschef im Ministerium die Spitzenbeamten aus den Ländern halbjährlich nach Wien oder in einen anderen schönen Ort in Österreich einlädt." Hier müsse mehr bei der Vernetzung getan werden, insbesondere die Digitalisierung könne hier helfen, so der Verwaltungsrechtler.

Zuletzt brauche es klare Strukturen - und zwar nicht nur im Verhältnis zwischen Ländern und Bund. "Die Rolle des Innenministeriums, wo das staatliche Krisenmanagement sitzt, ist im Verhältnis zum Gesundheitsministerium auch nicht immer völlig klar. Hier müssen die Strukturen geschärft und präzisiert werden."