Anders Tegnell, Schwedens ehemaliger Staatsepidemiologe, über Corona und die Kritik an seinem Pandemiemanagement.
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Anders Tegnell (66) ist in Pension. In den zwei Jahren seines Corona-Managements verhängte der Staatsepidemiologe der schwedischen Behörde für Öffentliche Gesundheit keinen Lockdown über sein Land. Niedrige Infektionsraten in Schweden scheinen derzeit für seine Strategie der Eigenverantwortung zu sprechen. Im Interview mit der "Wiener Zeitung" begründet er seine Entscheidungen und kommentiert Kritik, hält sich aber zu seiner kolportierten beruflichen Zukunft bei der WHO bedeckt. Der Arzt und Spezialist für Infektionskrankheiten war 2012 bis 2013 Abteilungsleiter des Schwedischen Instituts für übertragbare Krankheiten und 2013 bis 2022 Staatsepidemiologe.
"Wiener Zeitung": Schweden hat seine Corona-Maßnahmen aufgehoben: Es gibt keine Abstandsregeln, das Testen wurde eingestellt, die Empfehlung für Masken in Öffis gilt nicht mehr. Ist bei Ihnen die Pandemie etwa vorbei?
Anders Tegnell: Die Pandemie ist keineswegs vorbei. Die Seuche wird bleiben und letztlich eine endemische Krankheit werden, jedoch wird das nur langsam und allmählich geschehen, sodass wir nicht wissen, wann es so weit sein wird. In Schweden haben wir derzeit eine ruhige Periode. Vorige Woche gab es rund 6.000 Neuinfektionen (Österreich: 249.507, Anm.), aber das Risiko, dass die Zahlen im Herbst wieder steigen, ist hoch. Es ist daher unglaublich wichtig, weiter zu impfen und eine hohe Immunität in der Bevölkerung aufrechtzuerhalten, denn diese entscheidet, ob ein Land große oder weniger große Probleme mit Corona hat.
Sie wollten ein "langfristig wirkungsvolles" Pandemiemanagement, das Akzeptanz in der Bevölkerung finden sollte, verhängten daher keine Lockdowns und setzten auf Eigenverantwortung. Haben Sie das Gefühl, einen guten Job gemacht zu haben?
Wir haben diese Pandemie gemanagt mit den Möglichkeiten, die uns gegeben waren. Ich war Teil einer Behörde, die in sehr schwierigen Zeiten einen exzellenten Job gemacht hat. Freilich wären alle wir froh gewesen, wenn die Todesraten kleiner gewesen wären. Aber wir haben getan, was möglich war, und hoffentlich gelingt das künftig noch besser.
Im Frühjahr 2020 staunte man über den schwedischen Weg. Europäische Gesundheitsminister sprachen von einem großen Risiko, andere nannten Sie einen Zocker. Waren Sie sicher, dass Ihre Strategie funktionieren würde und wenn ja, warum?
Bei einer Pandemie mit einem neuen Erreger kann man sich keiner Sache sicher sein. Man ist immer gezwungen, in irgendeiner Form zu zocken. Andere Länder haben gezockt, indem sie alles zugesperrt haben, aber auch sie konnten nicht wissen, welche Maßnahmen sich als langfristig effektiv erweisen würden. Außerdem wird im medialen Hype übersehen, dass die schwedischen Schritte nicht viel anders waren: Auch wir hatten eingeschränkte Öffnungszeiten, hielten Abstand, hielten Museen und Unis geschlossen und machten Homeoffice. Bloß haben wir all dies nicht per Gesetz gegen das Individuum verordnet, denn dazu gab es in Schweden weder das Mandat noch die Tradition.
Was genau hat bei einer Pandemie in Schweden Tradition?
Vieles dreht sich um individuelle Verantwortung. Der Empfehlungscharakter unserer Herangehensweise ermöglichte es, eine Beziehung zwischen der Bevölkerung und der Behörde aufzubauen. Die Menschen haben uns ja nicht blind vertraut, sondern wir haben Argumente geboten, warum sie gewisse Dinge tun sollen. Vieles dreht sich hierzulande um Zuhören und Offenheit und wenn eine Sache sinnvoll erscheint, macht man sie.
Wie gut wurden Ihre Empfehlungen befolgt? Haben Sie das gemessen?
Wir haben Umfragen gemacht, persönlich und online. 75 bis 80 Prozent bezeugten Vertrauen in das System und sagten, dass sie sich nach den Empfehlungen richten. Mobilitätsdaten zeigten, dass Menschen zu Hause arbeiteten, nicht reisten und Restaurants oder Einkaufszentren seltener frequentierten. Im Oxford Index, eine Datenbank zur Einhaltung von Maßnahmen in 180 Ländern, schneiden die Niederlande mit ihren Verordnungen ähnlich wie wir ab.
Andere Länder wollten vielleicht mit Lockdowns auf Nummer sicher gehen. Haben Sie das nicht gemacht?
Das ist nicht fair. Man macht es sich zu leicht, wenn man annimmt, dass die Sicherheit sich automatisch mit der Zahl der Maßnahmen erhöht. Wer überlegt, welcher Weg am ungefährlichsten sein könnte, muss auch bedenken, was sonst noch passieren könnte. Menschen einzusperren stellt auch ein Risiko dar und das haben wir uns vergegenwärtigt.
Allein 2020 starben rund 13.000 Schweden an oder mit Corona - in Österreich 6.477. Besonders groß war das Problem in Ihren Altenheimen, mehr als die Hälfte der Toten war über 65. Wie konnte das passieren?
Selbst im ersten Jahr stach die Übersterblichkeit in Schweden nicht besonders hervor. Aber wir hatten sehr früh ein Riesenproblem in Pensionistenheimen. Es fehlte an medizinischer Expertise, gab viele Teilzeit-Mitarbeiter und man begann zu spät, zu testen. Auf diese strukturellen Probleme hatten mehrere Kommissionen hingewiesen, aber niemand hatte offenbar mit dem Effekt der Pandemie auf diese Schwachstellen gerechnet. Allerdings ist die Gesundheitsbehörde, in der ich arbeite, dafür nicht zuständig, sondern die Heime werden privat oder regional geführt und unterstehen regionaler Kontrolle. Wir konnten nur vermitteln, dass ältere Menschen ein hohes Risiko tragen, und zu Hygienemaßnahmen beraten. Das haben wir intensiv gemacht.
Im zweiten Jahr hat Schweden eine Kehrtwende gemacht und die Gangart verschärft. Was hatten Sie gelernt?
Vorweg gesagt, hatten wir die Empfehlungen nie aufgehoben. Es gab keine Sommerpause, sondern wir hielten durchgehend Abstand und blieben daheim. Im Herbst 2020 wurde klar, dass das nicht reichte, um die zweite Welle zu bewältigen. Also setzten wir auf strengere Maßnahmen, weiterhin mit Empfehlungscharakter. Eine Pandemie verstärkt bestehende Probleme und die Gesellschaft muss auf allen Ebenen zusammenarbeiten, um sie zu überwinden, denn sie trifft die Schwächsten am stärksten.
Laut einem Bericht, der auf dem Portal des Fachmagazins "Nature" erschienen ist, stellte Schweden 2020 ökonomische vor gesundheitliche Interessen. War das das Ziel der Regierung?
Absolut nicht. Die Regierung hat der Behörde den Auftrag gegeben, die Pandemiebekämpfung durchzuführen, und die Behörde für Öffentliche Gesundheit hat kein Mandat für ökonomische Entscheidungen.
Weiters ist von Umbesetzungen in der Behörde die Rede, die Ihnen zugutekamen. Laut den Autoren hätte die Regierung nicht einem kleinen Kreis die Gesamtverantwortung überlassen dürfen.
Wir sind kein kleiner Kreis, sondern eine Agentur mit fast 500 Mitarbeitern und einem riesigen Netzwerk nationaler und internationaler Kontakte. Vieles in dem Bericht ist unwahr, insbesondere, was die Formierung der Gesundheitsbehörde betrifft. Die beschriebenen Gründe für die Zusammensetzung der Agentur beinhalten zahlreiche Missverständnisse und die Autoren sind bekannte Kritiker, nicht die Mehrheit.
In Schweden, wo Zusammenarbeit einen hohen Stellenwert hat, dürften Galionsfiguren wie Sie Ausnahmen sein. Fühlten Sie sich wohl in der Position?
Als Staatsepidemiologe stellte ich mich als Sprecher der Agentur, die dem Gesundheitsministerium unterstellt ist, zur Verfügung. Wir genießen Autonomie, aber es gibt Strukturen für Entscheidungsprozesse. Wir entwickeln Empfehlungen im Team, diese gehen an Teamleiter, es wird auf allen Ebenen diskutiert und argumentiert und der Generaldirektor oder die Generaldirektorin (derzeit Karin Tegmark Wisell, Anm.) trifft die Letztentscheidung. Alle Behörden in Schweden sind so organisiert.
Haben Sie Droh- oder Schmähbriefe bekommen, wie der deutsche Gesundheitsminister Karl Lauterbach?
Ja, das hatte ich auch. Natürlich gibt es Menschen, die etwas kritisch sehen oder nicht zustimmen, aber aus meiner Sicht war das eher die Minderheit. Ich bekam auch lobende Zuschriften, eine Zeit lang wimmelte die Agentur vor Blumen.
In Österreich wollen sich 20 Prozent nicht impfen lassen, viele demonstrieren unablässig und engagieren sich politisch. Gib es das bei Ihnen auch?
In Schweden ist das keine Bewegung, sondern es sind heterogene Gruppierungen. Unsere Durchimpfungsrate liegt bei 80 Prozent.
Kolportierterweise wechseln Sie zur WHO. Andere wollen wissen, dass der WHO nichts davon bekannt ist. Gehen Sie wirklich zur Weltgesundheitsorganisation, ohne dass die davon weiß?
(lacht) Das ist ziemlich kompliziert. Die Diskussionen laufen, ich kommentiere es derzeit nicht. Ich bin nach wie vor für die Gesundheitsbehörde tätig, habe aber das Pensionsalter erreicht und meinen Posten als Staatsepidemiologe zurückgelegt. Wer in Rente geht, stellt weiterhin seine Expertise zur Verfügung, das ist hierzulande normal. Außerdem war das Timing gut, Jüngere rücken nach.