Zum Hauptinhalt springen

Die Parallelwelt der Unerwünschten

Von WZ-Korrespondent Andreas Hackl

Politik

Mehr als 400.000 Syrer leben in Jordaniens Städten - ein Lokalaugenschein.


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 11 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

Blick auf Amman: Die Hauptstadt ist mit knapp zwei Millionen Einwohner nur wenig größer als Wien.

Amman. Von etwa 380 Metern unter dem Meeresspiegel windet sich eine Asphaltstraße vom Jordantal mehr als 1000 Höhenmeter in die Berge, hinauf zur jordanischen Hauptstadt Amman. Am Weg nach oben werden Israel und das Westjordanland langsam von der dunklen Nacht aufgesaugt, bis durch die Heckscheibe des alten Taxis bald nur noch die dumpfe Straßenbeleuchtung zu sehen ist. Auf der Rückbank sitzt ein junger Portugiese, der in Amman für die Europäische Union unter Flüchtlingen Freiwilligenarbeit leistet.

Ausgerechnet Bierflaschen hat João aus Jerusalem über die Grenze nach Jordanien geschleppt. "Die waren billiger als in Amman", sagt er auf Englisch mit starkem Akzent. Er und seine zwei mitreisenden Kolleginnen scheinen knapp bei Kasse zu sein. Verzweifelt stehen sie später am Geldautomaten in Amman und bitten darum, ihre letzten Scheine aus Israel in jordanische Dinare einzutauschen. Und gerade weil João kaum Geld übrig hat, erzählt er begeistert von einem "sehr billigen" Restaurant. Das Besondere daran: Es wird von syrischen Flüchtlingen betrieben.

Flüchtlinge betreiben Lokal freilich ohne Erlaubnis

Die trostlose Wartehalle im UNHCR-Registrierungszentrum für Flüchtlinge. Andreas Hackl

Das syrische Lokal liegt in der Nähe des Goldmarkts im Altstadt-Zentrum von Amman, versteckt in einer engen Seitengasse. Nur drei improvisierte Tische sind draußen aufgestellt, jeder zusammengefügt aus einem Metalltablett und einer Kiste. Zur Auswahl stehen zwei syrische Gerichte. Der Fernseher läuft die ganze Zeit über am Nachrichtenkanal. "Alle scheinen mehr über Syrien zu wissen als wir Syrer", sagt der Restaurantbesitzer Abu Yamin zynisch, während er einen Teller mit Reis serviert. Schon vor mehr als einem Jahr ist er mit seiner Frau und drei Kindern aus Homs in Syrien geflüchtet, als ihr Haus bei einem Bombenangriff der Truppen des Regimes von Bashar al-Assad zerstört wurde.

Abu Yamin tut sein Bestes, um in Amman überleben zu können. Ohne die Hilfe seines 14-jährigen Sohnes würde er die Arbeit im Restaurant aber nicht schaffen. "Wären wir noch in Syrien, er würde sicher zur Schule gehen", sagt Abu Yamin. Sein Sohn nickt.

Durch die Registrierung beim Flüchtlingshilfswerk UNHCR hat die Familie immerhin Zugang zur öffentlichen Schulbildung und Gesundheitsversorgung in Jordanien. Außerdem erhalten sie rund 12 Euro Finanzhilfe im Monat. Doch all das sei bei weitem nicht genug. "Sie küssen dir die Hand und halten dich gerade noch am Leben", sagt Abu Yamin. Nüchtern fasst er die Lage zusammen: "Wir haben fast nichts."

Etwa 600.000 syrische Flüchtlinge leben nach Schätzungen der jordanischen Regierung im Land. Davon haben sich 533.000 beim UNHCR als "Flüchtling" registrieren lassen. Mehr als zwei Drittel davon leben aber nicht im Lager, sondern inmitten der jordanischen Gesellschaft in Städten, wie auch Abu Yamin und seine Familie. Die rund 400.000 urbanen Flüchtlinge tauschen die Rundumversorgung mit Nahrung, Wasser und Zelten im Lager für mehr Freiheit in der Stadt. Doch diese Freiheit ist freilich begrenzt, denn Arbeiten dürfen sie in Jordanien nicht. Um zu überleben, drängen sie dennoch in den Arbeitsmarkt, mieten gemeinschaftlich Wohnungen und überfüllen die städtischen Schulen.

Ohne Arbeitserlaubnis lebt auch Abu Yamin ständig mit der Angst, entdeckt zu werden. Den Kühlschrank mit Getränken hat er so neben den Lokaleingang in die Gasse gestellt, dass damit die Sicht von der Hauptstraße verdeckt wird. "Jeden Tag könnte mich die Polizei entdecken und abführen", sagt er. Sobald das Regime von Bashar al-Assad in Syrien fällt, will er seine Familie wieder zurück nach Syrien bringen. "Aber vorerst stellen wir uns aufs Bleiben ein."

Ohne Aussicht auf ein baldiges Ende des Krieges in Syrien denken manche schon an die Weiterreise. So auch der 31-jährige Duraid, ein Freund von Abu Yamin, der regelmäßig zu ihm ins Restaurant kommt. Aufgeregt erzählt er von "guten Neuigkeiten": Über die schwedische Botschaft soll es "eine Möglichkeit" für die Ausreise geben. Er will nach Europa.

Lieber in der Stadt als wie ein "Tier im Camp"

"Ich bin lieber hier in der Stadt, als wie ein Tier im Camp zu leben", sagt Duraid. "Aber auch hier bringt das Leben keine Stabilität." In Syrien war er Elektrotechniker. Doch ohne Arbeitserlaubnis sieht er in Amman keine Zukunft. Auf die Frage hin, ob er mit seiner Familie hier sei, setzt plötzlich ein bedrückendes Schweigen ein. Duraid sagt, er sei nun ganz alleine. "Sie sind alle tot. Alle getötet."

Im Gespräch mit den beiden Syrern wird klar, dass es für sie nicht nur ums Überleben, sondern auch um Anstand geht. "Ägypten ist kaputt, Libyen ist kaputt, Syrien ist kaputt. Vielleicht auch bald Jordanien. Wir wollen Stabilität und ein normales Leben in Würde", sagt Duraid zornig.

Er will kein "Flüchtling" sein. Weder im Camp noch in der Stadt. Deswegen hat er sich auch gar nicht beim Flüchtlingshilfswerk registriert. Das würde ihm immerhin kostenlose Gesundheitsversorgung, Zugang zu Schulbildung für Kinder und vielleicht Anspruch auf Finanzhilfe geben. "Wozu?", sagt er. "Ich bin allein hier. Ich will einfach nur weg. Irgendwohin, wo es Stabilität gibt."

Im umtriebigen Marktviertel Ammans kann man relativ unbeobachtet bleiben.

Syrer wie der 31-jährige Duraid, die keine Lust darauf haben, als Flüchtlinge kategorisiert zu werden, gehören zu einer kleinen Minderheit. Doch wer im urbanen Raum nicht vom offiziell zum "Flüchtling" wird, der hat keinen Anspruch auf die Hilfeleistungen der UNO und damit auch keinen Zugang zu den Dienstleistungen der Regierung.

"Das Flüchtlingshilfswerk ist wie ein Stromnetz", sagt Tala Kattan, eine Sprecherin des UNHCR in Jordanien. "Es versorgt fast alle, aber man sieht es kaum." Das trifft wohl besonders in der Stadt zu. Hier braucht es ein starkes Herzstück dieses "Stromnetzes". Einen Verteiler: das Registrierungszentrum.

In der riesigen Wartehalle des Zentrums ist kaum ein Sitzplatz nicht besetzt. Draußen im Hof kämpfen dutzende Kinder um jeden Quadratmeter eines kleinen Spielplatzes.

Täglich registrieren sich 1000 neue Flüchtlinge

Manche der Flüchtlinge sind heute gekommen, um sich zum ersten Mal eintragen zu lassen. Bis zu 3500 Flüchtlinge am Tag können hier vom System aufgenommen und kategorisiert werden. Derzeit kommen etwa 1000 neue Flüchtlinge am Tag zur "Erstaufnahme". 1500 weitere kommen täglich zur "Nachuntersuchung", denn nach sechs Monaten müssen sie ihre Daten erneuern. Um die Flüchtlingsbevölkerung zu erreichen, arbeitet der UNHCR viel mit Kurznachrichten: Gibt es eine neue Impfkampagne, bekommen alle eine SMS mit der Information und einem Termin. Ebenso werden die Flüchtlinge per SMS über neue Überweisungen informiert. Um Doppelregistrierungen zu vermeiden, wird ab sofort auch die Iris aller Flüchtlinge gescannt und gespeichert. Nur so könne der UNHCR den Überblick über Wohnorte, humanitäre Lage und Status der Flüchtlingsbevölkerung behalten, sagt Kattan. Jene, die es am nötigsten haben, bekommen auch Finanzhilfe. Doch nicht immer läuft alles reibungslos.

Der 33-jährige Abu Hussein ist mit seiner Frau und zwei Kindern ins Registrierungszentrum gekommen, weil ihnen seit einiger Zeit kein Geld mehr überwiesen wird. "Ich arbeite einmal da, einmal dort", sagt Abu Hussein. Ständig sei er auf Arbeitssuche. Erst im Dezember ist er mit seiner Familie aus Syrien über die Grenze gekommen. Um durchgelassen zu werden, mussten sie einen syrischen Grenzbeamten mit rund 350 Euro bestechen. Ihr eigenes Haus haben sie, nachdem es von einer Bombe getroffen wurde, zurückgelassen.

Ein paar Sitzreihen weiter wartet die Syrerin Muna mit ihrem Kind im Arm. Ihr Ehemann sei in Syrien zurückgeblieben, um im Widerstand gegen das Regime von Bashar al-Assad zu kämpfen. Finanzhilfe bekomme sie trotzdem keine. Aber ihr 19-jähriger Sohn Mohamed wird hin und wieder von einer Auto-Werkstätte angerufen, wenn sie eine Hilfskraft brauchen. Für fünf bis sechs Euro am Tag darf er dann schuften. "Wenn das noch lange so weitergeht, werden wir umkommen", sagt er.

Das Registrierungszentrum ist das Herzstück einer unsichtbaren "Regierung" inmitten jordanischer Städte. Wer sich als "Flüchtling" eintragen lässt, ist Teil davon. Doch egal wie lange die "Krise" anhält: Der "Flüchtling" ist gezwungen, in einem separaten System zu leben, bestimmt durch das, was der französische Anthropologe Michel Agier "humanitäre Regierung" nennt. Seine kritische These: Flüchtlinge werden als solche markiert, sortiert und unter dem Banner humanitärer Hilfe von der übrigen Bevölkerung getrennt und separat "regiert". In seinem Buch "Managing the Undesirables" schreibt Agier: "Von welchem Notfall sprechen wir, wenn sich humanitäre Intervention über Jahre oder gar Jahrzehnte an einem bestimmten Ort festsetzt?" Hält eine Flüchtlingskrise lange an, wird das System humanitärer Interventionen unfreiwillig zum Mittel dafür, Flüchtlinge als politisch rechtslose Menschen getrennt zu ,verwalten‘."

Selbst für jene Syrer in Jordanien, die humanitäre Hilfe beziehen, wird das urbane Leben als Flüchtling mit der Zeit immer schwieriger. Das Schuften ohne Arbeitserlaubnis, das Gemeinschaftswohnen auf engstem Raum und die überfüllten Schulen lassen den Alptraum der Flucht, aus dem man hofft, bald wieder aufzuwachen, für viele zum Dauerzustand werden. Widerstand regt sich langsam auch in der jordanischen Bevölkerung. Dabei fragen sich viele: Wie lange werden die Syrer noch bleiben?

Spätestens beim Blick vom Dach des UNHCR-Gebäudes auf die weitläufige Großstadt Amman wird vorstellbar, dass hier in kürzester Zeit eine neue Bevölkerungsgruppe in die urbane Masse eingewoben wurde. Dabei haben die Stadtflüchtlinge mit ganz eigenen Problemen zu kämpfen. Gleichzeitig lösen sie wieder neue Probleme aus.

Wegen der mangelnden Erwerbsfähigkeit als Flüchtlinge drängen sie in schlecht bezahlte Jobs, was wiederum zu mehr Arbeitslosigkeit führt. Weil es zu wenige Schulplätze gibt, sind die Klassen in den städtischen Schulen überfüllt. In Krankenhäusern und Kliniken kommt es zu Medikamentenknappheit. Und weil die syrischen Flüchtlinge oft in großen Gruppen verhältnismäßig engen Wohnraum mieten, schlagen Jordanier Profit daraus und verlangen pro Kopf mehr. So steigen auch die Mietpreise für alle anderen.

Obwohl Syrer Meister des Durchschlagens sind und eine informelle Ökonomie aufgebaut haben, könnte sich die Lage besonders in den Städten Jordaniens bald verschärfen, sagt Volker Schimmel, der für den UNHCR die Aktivitäten in den jordanischen Städten koordiniert. Denn wenn sich die aktuelle Müdigkeit der internationalen Geldgeber vertieft und gleichzeitig kein Wandel eintritt, sind die urbanen Flüchtlinge die Ersten, die es hart treffen wird.

"Das könnte verheerend werden. In den Camps kann man die nötigen Standards messen und reagieren. Aber im urbanen Raum wird die Situation schnell prekär", sagt Schimmel. Und: "Die Ersten, die es bei Kürzungen betrifft, sind immer die Flüchtlinge in Städten."

Schon jetzt fließe zu wenig Geld aus dem Westen, aber auch aus Saudi-Arabien und Qatar. Gleichzeitig führen die Auswirkungen von hunderttausenden Flüchtlingen in Jordaniens Städten, am Arbeitsmarkt und im Bildungswesen sowie der Wirtschaft zu Spannungen. Nur wenn Jordanien durch Reformen auf diese Entwicklungen reagiert, können die Städte zu einer langfristigen Lösung für die Flüchtlinge werden. Wenn das jedoch nicht passiert und gleichzeitig das Budget der UNHCR-Operation einbricht, wartet "ein Desaster auf die Flüchtlinge in der Stadt", warnt Schimmel.

Syrer stellen schon zehn Prozent der Bevölkerung

Schon jetzt würden Flüchtlinge ihr letztes gespartes Geld mobilisieren und Schmuck veräußern. Manche gehen sogar zur Ernte nach Syrien zurück. Mit derartigen Einmallösungen halten sich die Menschen über Wasser. Doch längerfristig lauert hier die Schuldenfalle, erklärt Schimmel, "zumindest solange es keine konkreten Möglichkeiten gibt, Geld zu verdienen. Aber leider wird der Mehrwert eines produktiven Flüchtlings nicht gesehen." Wirtschaftlich wäre die Einbindung der Flüchtlinge in den Arbeitsmarkt profitabel. Sie würden Steuern und Abgaben zahlen. Doch dazu ist in Jordanien bei weitem nicht jeder bereit. Das Land hat in der Vergangenheit große Zahlen an palästinensischen und irakischen Flüchtlingen aufgenommen. Die erneute humanitäre Krise wird dabei schnell zum politischen Thema. "Mein Volk kann die Last eines regionalen und globalen Problems nicht alleine auf den Schultern tragen", sagte der jordanische König Abdallah Ende September.

In nur wenigen Monaten stieg die Zahl der syrischen Flüchtlinge in Jordanien auf zehn Prozent der Bevölkerung an. "Die Last für Jordanien wird immer größer, die Finanzhilfe der internationalen Gemeinschaft immer weniger", meint auch Oraib Rantawi, Chef des Al-Quds-Zentrums für Politische Studien, ein Think-Tank mit Sitz in Amman. Die Mehrheit der Jordanier wisse, dass die Syrer nicht gekommen sind, "um Picknick zu machen, sondern um ihr eigenes Leben zu retten". Gleichzeitig steigt aber der Trend zur Xenophobie mit dem wirtschaftlichen Druck.

"Die wichtigste Frage dabei ist: Wann wird diese Krise enden? Wann werden die Flüchtlinge jemals zurückkehren?", meint Rantawi. Mittlerweile müsse man sich als Flüchtling auf mindestens fünf bis zehn weitere Jahre einstellen.

Jordaniens besondereRolle im Nahen Osten

Mit dem Blick auf langfristige Lösungen dringen auch Fragen der Sicherheit an die Oberfläche. Etwa, ob sich unter den Flüchtlingen "schlafende Gruppierungen" befinden, die einen militanten Hintergrund haben.

In der besonderen Rolle Jordaniens im Nahen Osten sieht Rantawi zugleich eine Herausforderung und eine Möglichkeit. "Ein stabiles Jordanien ist eine Notwendigkeit für diese Region. Jordanien hat die Funktion einer Pufferzone zwischen arabischen Staaten und Israel. Gibt es hier Instabilität, könnte sich das auch auf die Sicherheit dieser Länder auswirken." Deshalb werden sich letztlich alle für ein stabiles Jordanien einsetzen. "Die Saudis wollen Israel nicht vor ihrer Haustür haben", sagt Rantawi, der oft in den jordanischen Medien auftritt.

Die Frage der Rückkehr ist für die meisten syrischen Flüchtlinge in Jordanien eine sehr emotionale: Natürlich wird man zurückgehen, sobald es geht. Aber kaum jemand kann sich das vorstellen, solange Assad noch an der Macht bleibt. Dass der syrische Herrscher nun von USA und Russland diplomatisch aufgewertet wurde, indem man seine Chemiewaffen unter internationale Kontrolle stellen will, ist der halben Million Syrer in Jordanien nicht entgangen.

Während im Restaurant von Abu Yamin der Fernseher läuft, wird über neue Nachrichten von Angriffen in Syrien berichtet. "Europa und die USA sehen all das. Aber sie halten den Mund", sagt er und verschließt mit dem Zeigefinger sinnbildlich die Lippen. Die USA habe dem Regime von Assad mit den jüngsten Manövern eine Stütze gegeben. "Hunderttausende sind tot, und das ohne Chemiewaffen. Und sie geben ihm eine diplomatische Option?", sagt Abu Yamin wütend. "Sie sagen ihm: Alles o.k., solange du keine Chemiewaffen einsetzt, darfst du bleiben und weiter morden."