Im Endspurt setzt Irmgard Griss auf den Reiz der Revolution. Von einer "Dritten Republik" will sie trotzdem nichts wissen.
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Wien. 69 Jahre alt, katholisch, gediegen bürgerlich und ehemalige Höchstrichterin: Das war bis vor Kurzem nicht wirklich eine Mischung, die einen zum politischen Überraschungskandidaten prädestinierte. Jetzt plötzlich schon. Die parteiunabhängige Kandidatur von Irmgard Griss für das höchste Amt im Staat scheint einen Nerv zu treffen.
"Wiener Zeitung": Es gibt in Österreich das Sprichwort "Wir wern kan Richter brauchen". Ist das Ausdruck eines pragmatischen Lösungszugangs oder doch Hinweis auf verbreitetes Schlawinertum?Irmgard Griss: Ich verstehe das so, dass man sich schon einigen wird. Mit einer Umgehung der Gesetze hat das nichts zu tun.
Juristen haben diesem Land ihren Stempel aufgedrückt: Paragrafen regeln jedes Detail, und es werden immer mehr, was wiederum vor allem Juristen hilft.
Es ist eben oft leichter, ein neues Gesetz zu beschließen als zu überlegen, welche bestehende Regelung hat sich überlebt. Und für die Nachfrage nach neuen Regeln sorgt schon auch die Gesellschaft, die sie einfordert. Wenn etwas geschieht, lautet die erste Reaktion oft: Warum gibt es dafür kein Gesetz? Klare Vorgaben zu haben, ist eben ein menschliches Bedürfnis - und die Politik neigt dazu, diesem Bedürfnis nachzukommen. Und dann gibt es natürlich noch den Regelungsbedarf auf europäischer Ebene und technische Entwicklungen wie das Internet. Das alles schafft Bedarf für neue Regelungen.
Stichwort Europa: Alexander Van der Bellen argumentiert die etwaige Nichtangelobung eines FPÖ-Kanzlers mit dessen europapolitischen Standpunkten. Wie würden Sie handeln, wenn Sie einer EU-kritischen Mehrheit im Nationalrat gegenüberstehen sollten?
Für einen Austritt aus der EU bräuchte es eine Volksabstimmung, da ein solcher Schritt eine Gesamtänderung unserer Verfassung wäre. Ich halte das aber für eine völlig hypothetische Frage. Es stimmt schon, dass die EU oft kritisiert wird, aber einen Austritt verlangt meines Wissens nicht einmal die FPÖ. Es wäre auch gegen die Interessen des Landes.
Was bedeutet Macht für Sie?
Macht ist die Möglichkeit zu gestalten. Und Macht ist immer mit der Verantwortung verbunden, sie nicht für eigene sachfremde Zwecke zu nutzen.
Verfügt das Amt des Bundespräsidenten über Macht?
Das Staatsoberhaupt verfügt über eine sehr starke Stellung. Ihm ist auch in der Verfassung Macht eingeräumt, wobei das bisher nicht so gelebt wurde. Und er hat jedenfalls Macht als moralische Instanz, wenn es darum geht, das öffentliche Klima mitzubestimmen. Gerade jetzt, wo die Gesellschaft in einzelnen Fragen besonders gespalten ist, ist eine Stimme, die zu Einigkeit aufruft, wichtig.
Haben Sie den Eindruck, die Gesellschaft ist heute stärker gespalten als in der Vergangenheit?
Ja, doch, nehmen Sie nur die Flüchtlingsfrage. Dabei lassen sich solche Herausforderungen nur bewältigen, wenn alle zusammenarbeiten. Das ist früher ja auch gelungen, nehmen Sie nur die Sozialpartnerschaft: Hier haben SPÖ und ÖVP erfolgreich kooperiert, um Probleme zu lösen.
Hat die Sozialpartnerschaft neben einer erfolgreichen Vergangenheit auch eine Zukunft vor sich?
Das hängt davon ab, wie sie gelebt wird. Ein Interessenausgleich zwischen Arbeitnehmern und Wirtschaft ist absolut wünschenswert.
Auch wenn dieser Konsens außerhalb des Parlaments und hinter verschlossenen Türen zustande kommt? Das ist es ja, was Kritiker der Sozialpartnerschaft immer bemängeln, dass sie intransparent und ohne demokratische Legitimation handelt.
Das Parlament sollte auf jeden Fall die Spielregeln vorgeben, wenn gute Lösungen dann woanders ausgehandelt werden, ist das auch kein Problem. Absolute Transparenz ist aber ein wesentlicher Faktor, und ich bin auch gegen jede Art von politischen Mauscheleien und Tauschgeschäften.
Und die Pflichtmitgliedschaft bei Arbeiter- und Wirtschaftskammer?
Die sehe ich sehr kritisch. Wenn die Interessenvertretungen durch ihre Arbeit und Leistung überzeugen, braucht es keine Pflichtmitgliedschaft.
Damit stellen Sie einen wesentlichen Pfeiler der rot-schwarzen Zweiten Republik infrage.
Ja, bewusst. Vielleicht löst das ja eine Bewegung aus, das könnte ein Anstoß sein für die notwendigen Reformen.
Sie rufen oft und gerne zu einer breiten Zusammenarbeit auf. In der Vergangenheit war das ein verlässliches Codewort jedes Bundespräsidenten, dass SPÖ und ÖVP doch bitte eine große Koalition bilden sollen. Wie wichtig ist für Sie die rechnerische Größe einer etwaigen Koalitionsregierung?
Es kommt zuerst auf die Inhalte und die Menschen an, die sie umsetzen sollen. Wenn die Inhalte stimmen, reichen auch 51 gegen 49 Prozent. Bildung ist sicherlich die größte Baustelle, dann kommen Pensionen und Gesundheit. Die bloße Mehrheit ist keine Voraussetzung für erfolgreiche Politik, das zeigen ja SPÖ und ÖVP vor.
Ist wirklich gar nichts weiter gegangen im vergangenen Jahrzehnt?
Jedenfalls viel zu wenig.
Sie sind ein Kind der rot-schwarzen Zweiten Republik, wurden 1946 geboren und machten später dann Karriere. Sollten Sie tatsächlich gewinnen, wäre das für viele Beobachter ein Wendepunkt der Zweiten Republik. Für Sie auch?Es wäre auf jeden Fall ein äußeres Zeichen dafür, dass sich die Verhältnisse grundlegend geändert haben. Die Nachkriegszeit ist zwar schon lange vorbei, aber nach außen hin ist das nie so richtig sichtbar geworden. Dass sich die Sozialpartner alles hinter verschlossenen Türen ausmachen, dass SPÖ und ÖVP über viele Posten im Alleingang bestimmen: Das alles sind Relikte der Nachkriegszeit. Meine Wahl wäre ein Zeichen dafür, dass es damit jetzt vorbei ist, dass man nicht länger zu den einen oder anderen gehören muss, um etwas zu erreichen. Das hat mich schon als junge Frau gestört. Als ich in die USA gekommen bin und gesehen habe, dass es auch anders geht, war das für mich wie ein Erweckungserlebnis. Hier glauben manche immer noch, dass sie zu einer Partei gehen müssen, um erfolgreich zu sein. Wir sind es nicht gewöhnt, dass ein Mensch aus eigener Kraft etwas zustande bringen kann. Für viele gilt: Der Einzelne ist nichts, die Partei ist alles.
Phasenweise klingt das fast wie Jörg Haider und sein Kampf gegen den Proporz. Haider nannte, was danach kommen sollte, die ‚Dritte Republik‘. Wie nennen Sie es?
Ich nenne das eine aufgeklärte Gesellschaft, wo Eigeninitiative und Eigenverantwortung ganz wichtig sind. Wo niemand mehr Untertan von Parteien oder sonst jemandem ist.
Keine Rede von ‚Dritter Republik‘?
Nein, wieso auch, die Verfassung hat sich bewährt. Wir haben ein austariertes System zwischen Bundespräsident, Regierung und Parlament.
Wie gut das tatsächlich austariert ist, wird sich in der Praxis erst zeigen, wenn ein Bundespräsident seine Befugnisse wirklich austestet.
Das stimmt, wir haben diesen Teil der Verfassung noch nicht gelebt. Aber wir brauchen keine Dritte Republik, unsere Verfassung passt. Entscheidend wird sein, ob jeder von uns bereit ist, sich seiner Verantwortung zu stellen.
Sie haben sich in den Wahlkampf gestürzt, sind jetzt bundesweit bekannt: Werden Sie der Politik erhalten bleiben, sollte es nichts mit dem Wahlsieg werden?
Das entscheide ich, wenn es so weit ist.
Alles zu den Bundespräsidentenwahlen finden Sie in unserem Dossier.