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Griechischer Ort wie leergefegt, Bewohner besinnen sich auf Traditionen.
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Arachova. Die Popsongs dudeln unentwegt aus einem riesigen Lautsprecher, von "Radio Swisspop", wie alle paar Minuten zu hören ist. "Haben Sie ein Chalet hier?" - "Nein." - "Kommen Sie aus Athen?" - "Ja." - "Schön. Zum ersten Mal hier? Seien Sie versichert: Sie werden sich hier erholen. Ganz bestimmt." Netter könnte die blonde Bedienung nicht sein, als sie die dampfende Tasse Bergtee mit Honig und einer Scheibe Zwieback serviert.
Blendend hell strahlt die Sonne vom tiefblauen, wolkenlosen Himmel auf die weitläufige Terrasse, die Temperaturen liegen um den Gefrierpunkt. Kaiserwetter im winterlichen Griechenland. Alles ist so, dass es einem das Herz höher schlagen lässt. Nur: Der einzige Gast, der sich eingefunden hat, kann nicht eislaufen. Lieber schlürft er genüsslich sein Heißgetränk, berauscht von der Stille, der atemberaubenden Aussicht. So glitzert die künstliche Eisbahn, herrlich auf einer Hochebene gelegen, weiter einsam vor sich hin. Hier, in Arachova.
Mykonos im Sommer, Arachova im Winter. Für Athener mit dickem Konto war das die Devise, wenn es darum ging, wo sie im Urlaub am liebsten ihr Geld verprassen. Ob Ärzte, Staranwälte, Sänger oder Politiker: Arachova, 4000 Einwohner, 35 Kirchen, eineinhalb Autostunden von Athen entfernt, zu Füßen des Parnassos-Skizentrums gelegen, war in der Wintersaison lange Zeit angesagt, wenn es darum ging, seinen Reichtum unverhohlen zur Schau zu stellen.
Eingeweiht vom damaligen Premier Kostas Karamanlis im Dezember 1974 hat das Parnassos-Skizentrum heute 19 Pisten. Die Berge tragen mystische Namen: Liakoura, Tsarkos, Touborachi, Gerodovrachos, alle sind immerhin um die 2400 Meter hoch. Auch unerwartet anspruchsvolle Skigebiete wurden hier geschaffen. Und mit ihnen kam ein stürmischer, rasanter Aufstieg. Das zuvor eher verschlafene Arachova avancierte zu Griechenlands Wintersportzentrum Nummer eins, Après-Ski-Rummel inbegriffen. Noch ein Sinnbild für das starke, für das erfolgreiche Hellas nach dem Ende der Obristen-Diktatur. Arachova war das Davos auf Griechisch, das Mekka im Winter für Griechenlands Neureiche.
Chalets zum Schnäppchenpreis
Doch die mediterrane Feierlaune aus Boomzeiten ist im schmucken Winterort verflogen. Denn Griechenland steckt in der tiefsten Krise seit dem Zweiten Weltkrieg. Das Euro-Sorgenkind erlebt das sechste Jahr der Rezession. Um ein Viertel ist seither die Wirtschaftsleistung eingebrochen. Auch die hierzulande bisher als unantastbar geltenden Reichen und Schönen müssen mittlerweile bluten. Die Immobilienbesitzer in Griechenland haben im nächsten Jahr stattliche 3,9 Milliarden Euro an den chronisch klammen Fiskus in Athen abzuführen, gut 41 Prozent mehr als heuer und sagenhafte sieben Mal mehr als 2009. Für Hellas’ geschröpfte Prominenz heißt das: Kein Leben mehr in Saus und Braus. Trotz Neuschnee in diesen kalten Dezembertagen ist Arachova leergefegt. Die Party ist vorbei.
Jannis, der Tischler, kann ein Lied davon singen. Bis vor vier, fünf Jahren habe er sich vor Arbeit kaum retten können, erzählt er. Wer als Städter etwas auf sich hielt, wollte sich seinen Traum vom eigenen Chalet erfüllen, am liebsten hier. Die örtlichen Bauunternehmer hatten eine ungebremste Hochkonjunktur - und Jannis hatte viel zu tun. Doch dann kam die Krise, die mittlerweile auch Arachova fest im Griff hat. Unübersehbar. Überall kleben jetzt riesige Schilder mit der Aufschrift "Poleitai" ("Zu verkaufen") an fertiggestellten Holz- und Steinhäusern.
Mehr als 400.000 Euro musste ein potenzieller Käufer bis vor wenigen Jahren noch berappen, um in Arachova ein 140 Quadratemeter großes Chalet zu erwerben - ohne Extras, wohlgemerkt. Die Nachfrage war gewaltig. Heute bräuchte man dafür lediglich 140.000 Euro auf den Tisch zu legen - in dieser Lage fürwahr ein Schnäppchen. Im Schnitt sind die Häuserpreise seit dem Ausbruch der Krise Mitte 2008 in Arachova um 47 Prozent gefallen. Und Besserung ist nicht in Sicht.
Wie ist das Kaufinteresse? Scheinbar eine rhetorische Frage. Doch Jannis scheut sich nicht davor, den Finger in die Wunde zu legen: "Die Nachfrage ist gleich null", offenbart er. Keine Bankkredite, hohe Steuern: Das Ferienhaus in Arachova wurde zum unerschwinglichen Luxusobjekt. Jannis zeigt nach vorne, auf lauter Bauruinen. Viele Häuser sind unfertig, Bauschutt liegt herum, Unkraut schießt aus jeder Scharte. Wie lange wird die Durststrecke wohl noch dauern? Er seufzt. "Ich fürchte lange. Vielleicht wird es niemals wieder so sein, wie es einmal war."
Das Motto lautete: Geld verdienen - schnell und viel
Heute riecht es nach finalem Ausverkauf in Arachova - dem ehemals immerzu pulsierenden Ort. Filio Papastathopoulou, Anfang 50, sieht jedenfalls gerade darin eine Chance für einen Neuanfang. "250 bis 300 Euro für eine Übernachtung, teurer Champagner, so viel Prunk und Protz, alles auf Pump und durch Schwarzgeld en masse finanziert - das war doch völlig überdreht", poltert sie. Ihre Augen funkeln, als sie das sagt.
Die Frau weiß, wovon sie redet. Arachova kennt sie wie ihre Westentasche. Ihre Familie stammt aus dem Ort, in ihrer Kindheit und Jugend verbrachte sie die Schulferien hier. Im Moment nimmt die Lehrerin aus Athen ein Sabbatical. Sie wohnt in ihrem schönen, alten Elternhaus in der Hauptstraße. Bis zum Sommer, dann will sie schauen, wie es weitergeht.
Hat Arachova eine Zukunft? "Ja, das Leben geht doch weiter. Wir sollten uns auf unsere Wurzeln zurückbesinnen, auf unsere produktiven Kräfte. Wir haben hier Olivenhaine, Wein, Mandelbäume, originelle Käseprodukte. Wieso nicht wieder mehr davon herstellen?" Neulich habe ihre alte Nachbarin sie beobachtet, als sie gerade Mandeln im Garten pflückte - für den Eigenbedarf. Sie habe ihr zugerufen: "Filio, was tust du denn da? Die Mandeln sind doch zum Wegwerfen!" Sie sei sprachlos gewesen. "Beachten Sie: Mandeln kosten im Geschäft 15 Euro pro Kilo, zudem ist es meist Importware! Wir führen hier in Arachova Mandeln ein, obwohl wir damit gesegnet sind."
Eine große Tradition genieße in Arachova auch die Weberei, erzählt Filio. Handgefertigte Tücher, Teppiche und Tapeten aus der Region zählten zu den besten Stücken, die in Griechenland zu finden waren. Doch spätestens als hier der unsägliche Promi-Tourismus Einzug hielt, wendeten sich viele Bewohner von dem uralten, aber mühsamen Handwerk ab. Das Motto lautete allenthalben: Anders Geld verdienen - und zwar schnell, leicht, und viel.
Filio Papastathopoulou steht auf. Sie habe es eilig, müsse zur alten Schule, sagt sie. Dort werde heute eine Ausstellung über die Geschichte der Weberei in der Region eingeweiht, erklärt sie noch schnell. Das Interesse sei erfreulich groß. Vielleicht wird die Lehrerin recht behalten: Die desaströse Krise kann auch die Chance für einen Neuanfang sein. Nicht nur in Arachova. Auch in ganz Griechenland.