Politik ignoriert Kostenexplosion im Pensions-, Pflege- und Gesundheitssystem. | Bund muss allein für Altersversorgung mindestens 70 Prozent zuschießen. | Ohne Automatik wächst die Verunsicherung. | Ist die umstrittene Pensionsautomatik ein zentrales Problem, von dem die Zukunft unserer Pensionsversicherung abhängt?
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Die gesetzliche Pensionsversicherung muss ihre Leistungen aus den laufenden Einnahmen finanzieren. Die Pensionen beruhen auf den Beitrags- und Steuerleistungen der jeweils erwerbstätigen Generation.
Dieser Generationenausgleich kann nur funktionieren, wenn die junge Generation einerseits nicht zu stark belastet wird und andererseits hoffen darf, im Alter eine als ausreichend empfundene Pension zu erhalten. Dieses System wird instabil, wenn sich Einnahmen und Ausgaben auseinanderentwickeln.
Genau in dieser Situation befinden wir uns. Die Menschen werden immer älter. Von 1970 bis 2007 hat sich dadurch die Bezugsdauer einer Alterspension bei männlichen Angestellten von 9,5 auf 17,8 und bei weiblichen Angestellten von 12,5 auf 21,2 Jahre erhöht. Da sich die Lebenserwartung der 65-Jährigen jede Dekade um weitere 1,5 Jahre erhöht, werden bis zum Jahr 2035 weitere 4 bis 4,5 Jahre dazu kommen.
Dadurch steigt die Zahl der Pensionisten, während gleichzeitig die Zahl der Personen im erwerbsfähigen Alter sinkt. Begleitet wird diese Entwicklung von einer kontinuierlichen Steigerung der durchschnittlichen Pensionshöhe.
Zur Sicherung der Finanzierung gibt es nur drei Möglichkeiten:
(1) Erhöhung der Beiträge undStaatszuschüsse,
(2) Einsparungen bei den Leistungen oder
(3) ein Mix aus beiden Maßnahmen.
Die Pensionsreformen haben sich für den Mix entschieden: Durch Anhebung des Pensionsantrittsalters und ungünstigere Berechnung neuer Pensionen sicherte man die Finanzierung bis 2015.
Bis zum erwarteten Höhepunkt der Belastung des Systems um 2035 sollen die ab 2016 stark steigenden Mehrkosten durch Erhöhungen des Staatszuschusses gedeckt werden. Man nahm dabei einen Anstieg des Gesamtaufwands der Pensionsversicherung von 10,2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) auf 12,0 Prozent bis 2035 in Kauf. Rechnet man die Ersparnisse ab, die dem Bund durch die Pensionsreformen nach seiner Berechnung entstünden (563 Millionen Euro für 2030), dann müssten die Zuwendungen des Bundes von 2,2 Prozent des BIP auf 3,9 Prozent ansteigen.
Nur in einem Punkt war der Reformgesetzgeber vorsichtig. Er führte ein Verfahren zur Sicherung der Nachhaltigkeit ein.
Eine Expertenkommission hat alle drei Jahre zu überprüfen, ob sich die Lebenserwartung oder andere wichtige Einflussgrößen stärker verändert haben, als man erwartete. Sie hat die Mehrkosten zu errechnen und Vorschläge zu erstatten, wie diese aufgefangen werden können.
Diese Vorschläge müssen zu einer ausgewogenen Veränderung beim Beitragssatz, beim Staatszuschuss, bei der Pensionsformel, beim Pensionsantrittsalter und bei der Pensionsanpassung führen. Die Belastungen sollen also nicht nur von einer Generation, sondern in einer ausgewogenen Weise gemeinsam von der jungen, mittleren und alten Generation getragen werden.
Völlig offen, wie das Parlament reagiert
Die Prüfung ist allerdings auf das Jahr 2050 abgestellt und nicht auf die schwierigste Periode bis 2035. Und es bleibt völlig offen, wie das Parlament reagiert.
Die Regierung Gusenbauer hatte sich deshalb in ihrem Programm vorgenommen, eine automatische Anpassung für den Fall vorzusehen, dass die Lebenserwartung stärker steigt als erwartet. Die SPÖ verweigerte jedoch der zwischen den Ministern Bartenstein und Buchinger erzielten Einigung über die Umsetzung dieses Punktes ihre Zustimmung und beharrte auf der Beibehaltung einer bloßen Berichtspflicht.
Die Argumentation, man könne eine so wichtige Frage nicht einzelnen Ministern überlassen und die Bevölkerung dürfe nicht verunsichert werden, entbehrt jeder Logik und besitzt nur wahltaktische Gründe. Die Automatik hätte es allen Versicherten und Pensionisten ermöglicht, sich schon lange vorher darauf einzustellen, was geschehen wird. Da die Korrekturen alle drei Jahre vorzunehmen sind, wären die Änderungen jeweils nur geringfügig, da sie sich ja auf alle fünf genannten Größen verteilen.
Der Vorrang des Parlaments wäre nicht angetastet worden, da es ja der Gesetzgeber ist, der bindend festlegt, nach welchen Gesichtspunkten die erforderlichen Veränderungen vorzunehmen sind. Und schließlich hätte er es jederzeit in der Hand, korrigierend einzugreifen. Die Verunsicherung der Bevölkerung ist erst durch die Ablehnung der Automatik entstanden. Denn ohne sie kann sich niemand darauf einstellen, welche Entscheidungen die Politiker in der Zukunft fällen werden.
Wie sehen die Zukunftsaussichten aus? Der neue Bericht der Expertenkommission aus dem Jahr 2008 weicht erstaunlicherweise nicht nur bei der Entwicklung der Lebenserwartung, sondern auch bei der erwarteten Anzahl von Versicherten erheblich von den bisherigen Annahmen ab. Erwartet werden nunmehr für 2035 nicht weniger, sondern um 257.000 mehr Versicherte als derzeit. Dieser Zuwachs soll die sich abzeichnende Erhöhung des Gesamtaufwandes der Pensionsversicherung von 12 Prozent auf 12,5 Prozent des BIP ausgleichen; der Bundesbeitrag könne daher weiterhin mit etwa netto 3,9 Prozent konstant bleiben.
Der Grund für diese Änderungen sind neue Annahmen über das Ausmaß der Zuwanderung. Da sich diese in den Jahren 2000 bis 2006 erhöht habe, müsse man auch für die Zukunft mit einer Steigerung der in Österreich lebenden Ausländer rechnen. In den Jahren 2006 bis 2010 werde die Zuwanderung pro Jahr von 27.500 auf 30.000 ansteigen. Für die Jahre 2011 bis 2020 soll sie schrittweise auf 23.000 zurückgehen. Ab dem Jahr 2021 wird jedoch wieder ein deutlicher Anstieg erwartet. Der Höhepunkt der Zuwanderung soll im Jahr 2035 mit 37.880 zusätzlichen Ausländern erreicht werden.
Die neuen Zahlen finden sich in der Bevölkerungsprognose 2007 der Statistik Austria, die von der Prognose 2006 erheblich abweicht. Das Ausmaß der Abweichungen wird an folgender Zahl deutlich: In der Prognose für das Jahr 2006 hatte die Statistik Austria noch angenommen, dass Österreich erst im Jahr 2050 neun Millionen Einwohner haben werde; nach der neuen Prognose für 2007 soll diese Zahl jedoch schon zwanzig Jahre früher erreicht werden.
Die Statistik Austria rechtfertigt die neuen Annahmen vor allem mit "ökonomisch bedingter Migration aus Drittstaaten". Der zwischen 2020 und 2035 erwartete Rückgang der Zahl der 15- bis 65-Jährigen im Ausmaß von 269.000 soll also durch Ausländer vor allem aus Drittstaaten mehr als ausgeglichen werden.
Auffällig ist dabei, dass diese starke Zunahme genau für jene Jahre angenommen wird, in denen die Pensionsversicherung in der schwierigsten Lage sein wird. Und dies trotz der bekannten massiven Widerstände der österreichischen Bevölkerung gegen eine Zuwanderung aus nichteuropäischen Ländern.
Wer hat diese Annahmen getroffen? Sie stammen von einem Arbeitskreis, dem neben unabhängigen Experten Vertreter der zuständigen Ressorts und Kammern angehören. Bei dieser Zusammensetzung fällt es schwer zu glauben, dass sie ohne Blick auf ein erwünschtes Ergebnis getroffen wurden.
Selbst wenn sich jedoch diese Prognose bewahrheiten sollte, müsste sich die Gesamtleistung des Bundes bis 2035 real um 70 Prozent erhöhen. Wie dies geschehen soll, hat noch kein Politiker beantwortet, soll es doch erst ab 2017 schrittweise zu dieser Erhöhung kommen. Dann allerdings massiv: Durch rund 20 Jahre müsste der Bund jährlich nach jetzigem Wert zwischen 300 und 700 Millionen Euro mehr zuschießen.
Welche Regierung soll das schaffen? Sie müsste die Lasten einseitig dem Steuerzahler und damit vor allem der erwerbstätigen Generation aufbürden.
Die SPÖ fürchtet sich davor, dem Bürger rechtzeitig eine Orientierungshilfe zu geben. Den Jungen, den schon in Nähe der Pension Befindlichen und den Pensionisten wird damit vorgegaukelt, die Lasten würden andere als sie treffen. Es fehlt sogar der Mut einzugestehen, dass ein System, das noch 1970 auf Alterspensionen für eine Dauer von weniger als zehn Jahren zugeschnitten war, die Pensionen nicht - wie dies 2035 nötig sein würde, wenn keine gesetzlichen Änderungen vorgenommen werden - bei Männern für 22 und bei Frauen für 26 Jahre garantieren kann.
Statt dessen wird der von allen seriösen Experten vertretene Vorschlag, bei jeder weiteren Erhöhung der Lebenserwartung eine entsprechende Anhebung des Pensionsalters vorzusehen, entrüstet abgelehnt.
Fassen wir zusammen: Die entscheidende Frage lautet, ob die auf uns zukommenden stärkeren Belastungen nur von der Erwerbsgeneration getragen oder auf verschiedene Generationen aufgeteilt werden sollen. Je früher sie beantwortet wird, umso besser können sich alle darauf einstellen.
Diese Antwort wird von der Politik jedoch verweigert, was die Verunsicherung der Bevölkerung prolongiert. Die Befürchtung der Jungen, immer stärker zur Kasse gebeten zu werden, ohne selbst einmal erstrebenswerte Pensionen zu erhalten, nimmt weiter zu. Ohne Gegensteuerung durch überzeugende Taten wird die Leistungsbereitschaft dieser Generation, von der die Zukunft der Pensionsversicherung abhängt, entscheidend geschwächt.
Besondere Tragik der Lebensverlängerung
Die besondere Tragik liegt darin, dass die Verlängerung unseres Lebens nicht nur die Kosten der Pensionsversicherung, sondern auch jene für die Krankenversicherung und die Pflege Hochbetagter gewaltig erhöht. Bei der Frage, wie die Pensionsversicherung finanziert werden kann, müssen daher auch die Mehrbelastungen in diesen beiden Bereichen mitbedacht werden, was bisher noch kein verantwortlicher Politiker getan hat.
In dieser Situation kann nur die Aktivierung der Zivilgesellschaft weiterhelfen. Nur wenn es gelingt, das Wissen um die Zusammenhänge zu verbreitern und wenn sich einflussreiche Gruppierungen bilden, die keine Eigeninteressen verfolgen, sondern sich um eine faire Gestaltung unser aller Zukunft bemühen, besteht noch Hoffnung.
gastkommentar@wienerzeitung.at