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Evolutionstheorie: Menschen, nicht der Natur abgeschaut. | In der Kosmologie sind noch sehr viele Fragen offen. | Semmering. Das "Recht des Stärkeren" zu betonen, sei ein falsches Verständnis von Charles Darwins Evolutionstheorie, meint der Konstanzer Wissenschaftshistoriker Ernst Peter Fischer. "Ich behaupte, es gilt die Pflicht des Stärkeren. Die Stärkeren haben heute vergessen, dass sie Pflichten haben", erklärte er beim Österreichischen Wissenschaftstag auf dem Semmering. Wenn die Evolution etwas lehre, dann, dass man Fortschritt nicht am Wachstum messen dürfe, dass es vielmehr um Nachhaltigkeit gehe: "Dass die folgenden Generationen die gleichen Chancen haben wie wir, das ist unsere Verpflichtung."
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Mit Fischers Vortrag begann der bis diesen Samstag dauernde, traditionell in Nationalfeiertag-Nähe angesiedelte Wissenschaftstag auf dem Semmering, veranstaltet von der Österreichischen Forschungsgemeinschaft und dem Wissenschaftsministerium.
Zu den Voraussetzungen für Darwins Theorie zählen laut Fischer die Entdeckung der Statistik, der Variabilität und der Tiefenzeit - die einen Paradigmenwechsel bedeutende Erkenntnis, dass die Welt Milliarden Jahre alt ist und nicht genau 4004 Jahre, wie es seinerzeit manche aus der Bibel errechnen wollten.
Für den Konstanzer Wissenschafter waren nicht Darwins Naturbeobachtungen auf den Galapagos-Inseln in den 1830er Jahren, sondern die Lektüre des britischen Nationalökonomen Thomas Robert Malthus im Jahr 1838 und die Betrachtung der englischen Gesellschaft nach der industriellen Revolution Auslöser für die Evolutionstheorie, die er bekanntlich erst 1859 publizierte. Warum so spät? "Weil ihm noch etwas fehlte für seine Theorie," glaubt Fischer. Bei der Weltausstellung 1851 im Londoner Kristallpalast habe Darwin dann gelernt, wie die Industrie funktioniert, und daraus abgeleitet, wie die Natur funktioniert: "Wie ein kapitalistischer Industriebetrieb."
Ist Zufall steuerbar?
Zeigt auch der Kosmos Züge einer Evolution? Bruno Binggeli, Astronom aus Basel, erläuterte, wie Sterne entstehen und vergehen, dass unsere rund viereinhalb Milliarden Jahre alte, im Inneren 15 Millionen Grad heiße Sonne vermutlich bereits der dritten Generation angehört. Die Entwicklung der Sterne sei freilich keine Evolution, sondern die Voraussetzung für diese, wir Menschen seien "Kinder der Sterne".
Wie weit dabei reiner Zufall oder eine von manchen religiös interpretierte Entwicklung auf ein Ziel hin (Teleologie) die "Feinabstimmung der Naturkonstanten" so festsetzte, dass auf einem Planeten, der Erde, Leben in seiner heutigen Form entstehen konnte, darüber könne man letztlich wissenschaftlich nichts aussagen, meint Binggeli. Faktum sei, dass bereits kleinste Änderungen im Wert der Naturkonstanten eine völlig andere Welt hervorbringen und unsere physische Existenz unmöglich machen würden. So meinte Fred Hoyle 1952: "Die Bildung von Kohlenstoff im Inneren der Sterne hängt an einem seidenen Faden."
Die Wahrscheinlichkeit, dass irgendwo die nötigen Lebensbedingungen herrschen, steige zwar, wenn man die Existenz unendlich vieler Universen annehme, also ein Multiversum, doch dieser Rückgriff auf das Unendliche sei auch ein Rückgriff auf Transzendenz und damit nicht wissenschaftlicher als die theologische Sicht, so Binggeli.
Gibt es den gesteuerten Zufall? Welche Rolle spielt die Epigenetik, die alle nicht durch DNA-Sequenz-Unterschiede bedingten Veränderungen erfasst? Der aus Österreich stammende Evolutionsbiologe Günther P. Wagner, der an der Yale University in New Haven (USA) forscht, präsentierte beim Wissenschaftstag drei mögliche Steuerungsmechanismen der Natur, wie aus zufälligen genetischen Veränderungen (Mutationen) komplexe Organismen entstehen können. Die Effekte von Mutationen seien nicht unbegrenzt, es habe sich aber in den letzten Jahren erwiesen, dass die Vorzugsrichtungen der Mutationseffekte von der natürlichen Selektion gestaltet werden können.
Konkret den Menschen betreffende evolutionäre Vorgänge beleuchteten die in Utrecht (Niederlande) lehrende US-Psychologin Judith Semon Dubas und der aus der Schweiz stammende Sprachwissenschafter Ivo Hajnal von der Universität Innsbruck.
Qualität vor Quantität
Dubas sieht beim Menschen, was Elternschaft anlangt, die qualitative Strategie (eher wenige Kinder, für die viel Zeit und Mittel eingesetzt werden, was sich meist positiv auswirkt) gegenüber der quantitativen Strategie (eher mehr Kinder, die aber vernachlässigt werden, was bei Buben leicht Aggression, bei Mädchen Depression auslösen kann) im Vormarsch. Die Zuwendung zu Kindern sei laut Studien größer, wenn diese gesund und attraktiv seien; vor allem bei Vätern spiele auch noch eine Rolle, ob sie ihnen ähnlich sehen und die Vaterschaft demnach sicher sei.
Kontrovers bleibt, so Hajnal, die Frage nach den Ursprüngen der menschlichen Sprachfähigkeit und der Entwicklung von Sprachen. Heute liegen Versuche im Trend, die Auseinanderentwicklung verwandter Sprachen mit unterschiedlichen, auch "archäogenetischen" Modellen zu beschreiben beziehungsweise zu rekonstruieren.