Zygmunt Bauman hat als Theoretiker der "Flüchtigen Moderne" die Fragwürdigkeiten der Konsumgesellschaft analysiert. Ein Porträt des Soziologen zu seinem 90. Geburtstag.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 8 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
"Wir leben nunmehr im Zeitalter der Postmoderne, in dem es keine universell gültigen Wertsysteme mehr gibt und auch kein ideologisches Korsett. Die einzige Aufgabe, die der Soziologie bleibt, besteht darin, diese tiefgreifenden Veränderungen zu beschreiben und Abschied vom bisherigen Selbstverständnis zu nehmen".
Mit diesem Statement eröffnet Zygmunt Bauman ein ausführliches Gespräch, das in seinem Haus in Leeds stattfand. Nach dem Genuss von Erdbeertörtchen und Keksen, die der gastfreundliche Gelehrte auftischte, kam er, Pfeife rauchend und in seinem Ohrensessel sitzend, auf seine wichtigsten Thesen zu sprechen.
Bauman zählt zu den Repräsentanten der "Postmoderne". Ähnlich wie die französischen Philosophen Jean-François Lyotard oder Jacques Derrida ist er davon überzeugt, dass es keine großen Erzählungen mehr gibt. Damit ist gemeint, dass alle Philosophien oder Ideologien, die ein universal gültiges Weltbild entwarfen, obsolet geworden sind. "Die postmoderne Weltauffassung beinhaltet die Auflösung der Objektivität, das heißt, dass die Annahme einer an sich seienden, immer schon existierenden, objektiven Welt aufgegeben wird. Die Postmoderne strebt nicht danach, eine Wahrheit durch eine andere, ein Lebensideal durch ein anderes zu ersetzen. Stattdessen propagiert sie ein Leben, das sich nicht auf feststehende Wahrheiten beruft. Vom postmodernen Standpunkt scheint die Welt stattdessen aus einer Vielzahl von subjektiven Perspektiven zu bestehen, wobei je spezifische Deutungszusammenhänge geschaffen werden."
Aus Polen in die Welt
Um einen solchen Deutungszusammenhang hat sich Bauman zeit seines Lebens bemüht. Er wurde am 19. November 1925 im polnischen Posen als Sohn einer jüdischen Familie geboren. 1939 musste er mit seiner Familie wegen der nationalsozialistischen Okkupation Polens in die Sowjetunion fliehen und nahm später als Mitglied der Polnischen Armee am Zweiten Weltkrieg teil. Danach studierte er Soziologie und Philosophie in Warschau, wo er sich habilitierte und einen Lehrstuhl erhielt. 1968 war er gezwungen, Polen wegen einer antisemitischen Hetzkampagne zu verlassen und lebte danach in Israel. Ab 1971 lehrte Bauman Soziologie an der University of Leeds. Dort verbringt er auch seinen Ruhestand, der von zahlreichen Gastvorträgen in verschiedenen Ländern unterbrochen wird.
Seine soziologische Arbeit versteht Bauman keineswegs als Deskription im Sinne einer empirischen Soziologie, sondern vielmehr als Interpretation gesellschaftspolitischer Prozesse. "Die meiner Meinung nach wichtigste Eigenschaft der Soziologie besteht in ihrer Fähigkeit zur Interpretation. Jede artikulierbare Erfahrung, die ein Objekt der Sozialforschung werden kann, ist eingebettet in ihre eigene Lebenswelt, die wiederum von verschiedenen Komponenten wie lokaler Tradition oder einer gewissen Mentalität bestimmt wird.
Die Vielfalt von verschiedenartigen Lebensbezügen, Traditionen und Sprachspielen lässt sich nicht auf einen gemeinsamen Nenner bringen." Diese Vielfalt bringt es mit sich, dass bis dahin gültige Gewissheiten verloren gehen und beeinflusst in entscheidender Weise die Lebensplanung der Individuen, wie sie Bauman im Laufe seines langen Lebens selbst erfahren hat: "Als junger Mann war ich sehr von Jean-Paul Sartre geprägt. Er empfahl, ein >projet de la vie< zu entwerfen; das heißt einen Lebensplan, den man konsequent verfolgen sollte. Bevor ich als alter Mann 1990 die Universität verließ und damals meinen Studenten von diesem Projekt erzählte, lachten sie nur darüber und sagten, wir sind froh, wenn wir ein Forschungsprojekt für das nächste Jahr erhalten."
Soziologische Analyse
Im Mittelpunkt von Baumans wissenschaftlicher Arbeit steht die Analyse der gesellschaftlichen Entwicklungen, die sich in den letzten Jahrzehnten ergeben haben. Der funktionierende Sozialstaat, der sich im 20. Jahrhundert nach langen historischen Kämpfen etabliert und den Individuen Sicherheit geboten hat, ist im Zerfall begriffen. "Wir müssen, wenn wir ehrlich zu uns selbst sind, bekennen", konstatiert Bauman, "dass wir vor den Trümmern einer Ordnung stehen, die als Ideal verherrlicht wurde." Das Individuum war durch den Wohlfahrtsstaat abgesichert. Die Lohnabhängigen profitierten von einer Entwicklung, die der französische Soziologe Robert Castel als "den sozialen Kompromiss des Industriekapitalismus" bezeichnete. Das sogenannte "soziale Netz" schützte die Mehrheit der Arbeitenden vor Risiken wie Arbeitslosigkeit oder Berufsunfähigkeit. Abgelöst wurde dieses Modell durch den Globalisierungsprozess der "Zweiten Moderne", wie sie der kürzlich verstorbene deutsche Soziologe Ulrich Beck genannt hatte, der mit Bauman befreundet war.
Die Globalisierung bewirkte eine Transformation der Gesellschaft, die erhebliche Umwälzungen mit sich brachte. Die Rede ist von einer weit verbreiteten sozialen Unsicherheit, von der die postindustriellen Gesellschaften Westeuropas und der Vereinigten Staaten betroffen sind. Wachsende Massenarbeitslosigkeit, der Abbau, die Kürzung von Sozialleistungen oder die Verlängerung der Lebensarbeitszeit sind Symptome einer grundlegenden Veränderung des Wohlfahrtsstaates. Die Folgen sind Verunsicherung, Angst und eine verbreitete Verantwortungslosigkeit. Dieses Leben im Ungewissen ist laut Bauman die Voraussetzung für eine "Anomie", die den funktionalen Zusammenhalt der Gesellschaft bedroht. Dieses Interregnum der Unsicherheiten bezeichnet Bauman als "Flüchtige Moderne".
Eine wesentliche Ausprägung der "Flüchtigen Moderne" ist die Konsumgesellschaft: "Der Maßstab für das Sozialprestige ist das Ausmaß, in dem wir einkaufen", sagt Bauman im Gespräch, "die Leichtigkeit, mit der wir uns eines Konsumartikels entledigen, um ihn durch einen neuen und besseren zu ersetzen."
In diesem künstlichen Paradies, das dem Einzelnen die perfekte Erfüllung all seiner Wünsche suggeriert, herrscht eine "komfortable, reibungslose, vernünftige Unfreiheit". Eine glitzernde Scheinwelt wird inszeniert, um den tiefsten Sinn der menschlichen Existenz zu verdeutlichen: Du sollst konsumieren! Um den Konsum zu steigern, entwickelt die Konsumindustrie Werbestrategien, die angewendet werden, um die Menschen zu einem gesteigerten Konsum zu ermuntern. Das Ziel ist nicht mehr, Bedürfnisse zu befriedigen, sondern neue Bedürfnisse zu wecken. Dem Konsumenten wird suggeriert, dass er Spaß haben und sich wohl fühlen soll. Es ist dies eine Art Kategorischer Imperativ, der lautet: Sei glücklich!
Pflicht zum Genuss
"Das Leben des Konsumenten wird darauf reduziert, im Moment zu leben, Spaß zu haben, sich zu unterhalten. Es ist meine Verpflichtung, mein Leben zu genießen. Falls einem das nicht gelingt, gelte ich in der Konsumgesellschaft als Versager. Es gibt den utopischen Roman >Erewhon< des englischen Schriftstellers Samuel Butler, in dem Menschen, die sich nicht wohl fühlen, ins Gefängnis kommen. Sich nicht glücklich zu fühlen, ist ein krimineller Akt."
Der permanente Glückszustand, der von den Propagandisten des Konsumismus der "Flüchtigen Moderne" propagiert wird, ist für Bauman der Ausdruck einer oberflächlichen Haltung, die ernsthafte Probleme negiert. Eine entgegengesetzte Einstellung fand Bauman bei Johann Wolfgang von Goethe: "Goethe ging davon aus, dass das Glück darin besteht, sich mit den Pro-blemen des Lebens auseinanderzusetzen und dafür eine Lösung zu finden. Die Menschen heute glauben jedoch, dass das Glück eine kontinuierliche, niemals endende Folge von glücklichen Stimmungen ist."
Die Kehrseite des Konsumismus besteht darin, dass diejenigen, die sich am gesellschaftlichen Spektakel nicht beteiligen können, exkludiert werden. Unter Exklusion versteht Bauman die Vorstellung, dass ein wachsender Teil der Gesellschaft damit konfrontiert wird, als Arbeitslose, als Sozialhilfeempfänger für die Erfolgreichen nur mehr eine Belastung zu sein. In der Gesellschaft der Konsumenten sind Menschen nur wertvoll, so lange sie konsumieren können. Der Konsum ist die Eintrittskarte für die vollwertige Mitgliedschaft in der "Flüchtigen Moderne".
Leid der Exklusion
In seinem Buch "Verworfenes Leben. Die ausgegrenzte Moderne" beschreibt Bauman die Exklusion von Menschen, die nicht im Stande sind, sich am allgemeinen Konsumrausch zu beteiligen. Die soziale Exklusion bewirkt ein Grundgefühl der Resignation; die ständige Konfrontation mit der Armut - so Bauman - zermürbt den Körper und die Seele der Menschen: "Diese Exkludierten leiden individuell, jeder leidet für sich selbst, ohne die Chance, das Mitgefühl derjenigen zu erlangen, die in der Gesellschaft integriert sind. Tausende Menschen unterliegen einem ähnlichen Leidensprozess. Sie befinden sich in einer Situation, in der existenzielle Grundbedürfnisse wie ausreichende Nahrung oder eine Wohnmöglichkeit nicht mehr gegeben sind. Es gibt keine Aussicht, dass sich die Lage verbessert; im Gegenteil: Wenn man aus der Gesellschaft exkludiert ist, wird alles nur noch schlimmer. Man befindet sich nicht am unteren Ende der Gesellschaft, sondern außerhalb."
Das Ziel der soziologischen Arbeit Baumans besteht darin, die Aufmerksamkeit auf die Ungerechtigkeiten zu richten, die sich in der spätkapitalistischen Gesellschaft ereignen. Bauman begnügt sich aber nicht damit, sie zu beschreiben; er setzt sich leidenschaftlich für die Überwindung der sozialen Gegensätze ein. "Die Soziologen haben die Pflicht zur Hoffnung", schreibt er, "denn die soziale Ordnung ist von Menschen gemacht und nicht unvermeidlich . . ."
Literatur:Wichtige Bücher von Bauman wie "Flüchtige Moderne", "Gemeinschaften" oder "Wir Lebenskünstler" sind in der edition suhrkamp erschienen. "Moderne und Ambivalenz.Das Ende der Eindeutigkeiten" und "Verworfenes Leben. Die Ausgegrenzten der Moderne" wurden in der Hamburger Edition publiziert.Empfehlenswert ist die kürzlich publizierte Studie von Jens Kastner: "Zygmunt Bauman. Globalisierung, Politik und Flüchtige Kritik", Turia&Kant, Wien 2015, 206 Seiten, 22,- Euro.
Nikolaus Halmer,geboren 1958, ist Mitarbeiter der Wissenschaftsredaktion des ORF; Schwerpunkte: Philosophie, Kulturwissenschaften.