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Die Physiologie des Entscheidens

Von Peter Markl

Wissen

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Antonio Damasio, heute Professor der Neurowissenschaften an der Universität von Südkalifornien und Direktor des dortigen "Brain and Creativity"- Instituts, ist einer der führenden Neurologen der Welt. Er hat jeweils in Zusammenarbeit mit jüngeren Spezialisten von Weltrang signifikante Originalarbeiten zu den wichtigsten Wachstumszonen in den Problemkreisen um die Neurologie des Bewusstseins beigetragen.

Damasios Vorstellungen über die Funktionsmechanismen des Gehirns wurden in intensiver Wechselwirkung mit Neurowissenschaftern entwickelt, die in geografisch nahen kalifornischen Forschungseinrichtungen arbeiten, vor allem mit dem Team um Francis Crick und Christof Koch am Salk Institut, an dem auch Damasio eine Professur hat. Im intellektuellen Sog solcher Institutionen entstand ein dichtes interdisziplinäres Netz von führenden Forscherperönlichlichkeiten und Forschungsinstitutionen, die weltweit mit den Spitzen der Forschung in engem Kontakt stehen. Das macht Kalifornien heute zu einem Ballungsgebiet der neurologischen Forschung.

Philosophie des Geistes

Damasio hat drei Bücher geschrieben, in denen er diskutiert, welches Licht seine Arbeiten auf die Philosophie von Descartes oder Spinoza werfen. Die Wissenschafter, denen er in diesen Büchern für ihre Kommentare zum Manuskript dankt, lesen sich wie ein "Who is Who" der heutigen angelsächsischen Philosophie des Geistes, wobei er manche Beiträge seiner Diskussionspartner unter den Berufsphilosophen gelegentlich auch in seinen neurowissenschaftlichen Originalarbeiten anerkennt.

Auch wer vorwiegend an Philosophiegeschichte interessiert ist, kann die Probleme, welche Descartes und Spinoza zu ihrer Zeit aufgeworfen haben, nicht mehr adäquat diskutieren, ohne darauf einzugehen, wie sich die Problemsituation durch die Neurowissenschaften in den letzten 50 Jahren gewandelt hat.

Daran hat Damasio wesentlichen Anteil. Er ist unter den großen Neurobiologen derjenige, der evolutionshistorische Aspekte am weitesten in seine Mutmaßungen einbezieht.

"Selbst ist der Mensch", das kürzlich neu auf Deutsch erschienene Buch Damasios, ist seine persönlichste Gesamtsicht. Er hat es geschrieben, weil neue Forschungsergebnisse seit 2000 seine integrierte Sicht des Problems der Entstehung von Bewusstsein verändert haben - und er den Stand der Diskussion aus seiner heutigen Sicht noch einmal in konzentrierter Form präsentieren wollte.

Kritische Rezeption

Die Rezeption des Buches liefert interessante Indizien für die Rezeption der Neurobiologie unter geisteswissenschaftlich orientierten Kommentatoren, wobei eine Reihe von Faktoren die Erörterungen prägen: Es war seit einem Jahrzehnt abzusehen, dass die Diskussion um die Neurobiologie des Bewusstseins die Diskussion um die Evolutionstheorie ablösen würde. Für katholisch geprägte Denker ist diese Diskussion weltanschaulich noch brisanter als die Diskussion um die Entstehung des Lebens durch Emergenz aus rein materiellen Prozessen aus nicht lebender Materie. Bei der Evolution von Geist sollte nur eine göttliche Schöpfung ganz besonderer Art als akzeptierbare Erklärung hingenommen werden.

Es stimmt schon: Trotz der fraglos großen Fortschritte in der Neurobiologie hat heute noch niemand auch nur eine Ahnung, wie ein Stück Fleisch Selbstbewusstsein erzeugen kann.

Es gibt zwar einige prominente Neurobiologen, welche sich vorstellen können, dass man in den nächsten 30 Jahren schon verstehen wird, welche materiellen Prozesse Denkvorgänge möglich machen. Manche Neurophilosophen nennen dieses Problem das leichte Problem der Entstehung des Geistes. Sie bezweifeln aber, dass man bei der Erklärung dessen, wie es sich anfühlt, der Lösung bisher auch nur einen Schritt näher gekommen ist. Das ist für sie das "harte Problem" des Bewusstseins. Andere prominente Neurophilosophen bezweifeln allerdings, dass es dieses harte Problem überhaupt gibt.

Auch Damasio behauptet nicht, dieses Problem gelöst zu haben, aber er macht in seinem jüngsten Buch dazu einen Vorschlag, der sehr umstritten ist. Alte konservativen europäische Philosophen, die sich oft als Kämpfer gegen den heute von fast allen Neurobiologen vertretenen "Materialismus" sehen - was immer man genau darunter verstehen mag -, lehnen ihn ab. Aber auch die Gemeinde der angelsächsischen Philosophy of Mind-Spezialisten, die - was die naturalistische Erklärung der Evolution betrifft - auch mentalen Prozessen im Großen und Ganzen zustimmen, haben zur Erklärung des Bewusstseins - oft auch unter dem Einfluss von Damasio - anderslautende Vorstellungen entwickelt.

Damasio erwähnt diese Autoren zwar im umfangreichen Anmerkungsteil mit einigem Respekt, setzt sich mit deren Theorien in diesem Buch aber nicht auseinander. (John Searle, Jerry Fodor und Owen Flanagan haben sehr kritische Besprechungen des Buches geschrieben).

Thema Willensfreiheit

Da die Gefahr besteht, dass inmitten der Genugtuung über die im gegnerischen Lager erneut ausgebrochene Auseinandersetzung untergeht, dass Damasios Buch auch seine Sicht der Diskussion um die Freiheit des Willens präsentiert, und das Buch selbst zu ideenreich ist, um hier adäquat besprochen werden zu können, soll nur noch dieser eine Punkt angerissen werden. Damasios Schüler Antoine Bechara ist darauf in einer sehr klaren Publika-tion eingegangen.

Entscheidend sind die neuronalen Prozesse, welche bei Entscheidungen eine Rolle spielen. Es ist offensichtlich, dass Prozesse dabei sind, die nicht absolut kontrolliert werden können, schon deshalb, weil sie im vorbewussten Raum bleiben. Die Neurologie zeigt, dass es eng begrenzte neuronale Schäden gibt, welche das normale Funktionieren dieser Prozesse stören. Solche Patienten leiden dann unter "Willensstörungen", wobei man unter Willenskraft die Fähigkeit versteht, auf kurzfristig zu erwartende Vorteile einer Handlung zugunsten größerer Vorteile verzichten zu können, auch wenn sich diese Vorteile erst auf lange Frist einstellen würden.

"Somatische Marker"

Man braucht dazu offensichtlich zwei Typen neuronaler Mechanismen: die einen entwerfen neuronale Bilder möglicher Handlungsfolgen - eine Spezialität der präfrontalen Großhirnrinde, die anderen sind notwendig, um neuronal mögliche Zukünfte zu bewerten: diese Prozesse hat Damasio "somatische Marker" getauft. Sie sind affektive und emotionale Reaktionen, die mit den Handlungsfolgen verbunden wären - ein Beitrag des evolutionär älteren Stammhirns zu den bewussten Prozessen, von wo sie durch bestimmte Reize unbewusst und automatisch abgerufen werden.

Die primären Reize sind angeboren oder erlernte Reaktionen für Situationen, die eine schnellere somatische Antwort auslösen (die vier F’s der Amerikaner: Fliehen, Fressen, Kämpfen und Paaren).

Sekundäre somatische Marker sind mentale Entitäten, die durch die Erinnerung oder das Vorstellen starker emotionaler Ereignisse erzeugt werden. Natürlich kann ein Ensemble möglicher Handlungsfolgen eine Mischung von positiven und negativen Bewertungen induzieren. Unbewusst bleibende Selektionsprozesse führen dann erstaunlicherweise dazu, dass eine einzige positive oder negative Bewertung entsteht, die im Bewusstsein als Bauchgefühl auftaucht. Der Beitrag der unbewussten Marker zu Bewusstseinsentscheidungen wird weit unterschätzt, obwohl die getroffenen Entscheidungen in einem komplexen Wechselwirkungsprozess mit den neuronalen Bildern der jemandem vorstellbaren Handlungsfolgen entstanden.

Wohlüberlegte Bewusstseinsentscheidungen sind langsam und, verglichen mit dem schnellen Auftauchen der Bauchgefühle, auch etwas mühselig. Der amerikanische Nobelpreisträger für Wirtschaftsaftswissenschaften Daniel Kahnemann, ausgezeichnet für seine Arbeiten zur Psychologie des Entscheidens mit den dabei involvierten Grenzen der Rationalität, ist in seinem unlängst erschienenen, leicht verständlichen und faszinierenden Buch "Thinking fast and slow" dem Wechselspiel von unbewussten und bewussten Faktoren nachgegangen. Antonio Damasio und seine Mitarbeiter haben gezeigt, welche neuronalen Prozesse dabei im Spiel sind.

Peter Markl unterrichtete an der Universität Wien Analytische Chemie und Methodik der Naturwissenschaften. Er ist Mitglied des Konrad Lorenz Instituts für Evolutions- und Kognitionsforschung und Mitglied des Kuratoriums des Europäischen Forums Alpbach.

Literatur zum Thema Bewusstsein:

Antonio Damasio: Selbst ist der Mensch. Körper, Geist und die Entstehung des menschlichen Bewusstseins Deutsch von Sebastian Vogel. Siedler, München 2011. (Im Original: Self comes to Mind. Constructing the conscious Brain, 2010.)
Antonio Damasio: Ich fühle, also bin ich: Die Entschlüsselung des Bewusstseins. Deutsch von Hainer Kober. List, München 2000.
(Im Original: The feeling of what happens, 1999).
Antonio Damasio: Der Spinoza-Effekt. Wie Gefühle unser Leben bestimmen. Deutsch von Heiner Kober. List 2004 (Im Original: Looking for Spinoza. Joy, Sorrow and the Feeling Brain, 2003.)
Antonio Damasio: Mental self: the person within. In: "Nature" 423,15. Mai 2003.
Chris Frith: Wie unser Gehirn die Welt erschafft. Deutsch von Monika Niehaus. Spektrum – Akademischer Verlag 2010. (Im Englischen: Making up the mind. How the brain creates our mental World, 2007).
Daniel Kahnemann: Thinking fast and slow. Farrer Strauß & Giroux, 2011.
Kelly Burns, Antoine Bechara: Decision making and freewill: A Neuroscience Perspective. In: "Behavioural Sciences and the Law" Nr. 25, 2007, S. 263 -280.