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Die Piraten kaperten die "Parteiverdrossenen"

Von WZ-Korrespondentin Christine Zeiner

Politik

In Berlin erstmals Einzug in ein Landesparlament. | Rot-grüne Koalition in der Hauptstadt wahrscheinlich.


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Berlin. Um Mitternacht war die Party vorbei: Die letzten Grünen verließen den Club "Festsaal Kreuzberg". Der Raum war hell erleuchtet, man kehrte bereits den Boden. Die Grünen haben bei der Berlin-Wahl am Sonntag mit ihrer Spitzenkandidatin Renate Künast zwar um 4,5 Prozentpunkte zugelegt und 17,6 Prozent der Stimmen erreicht - doch übernehmen sie damit nicht, wie erhofft, das Bürgermeisteramt. Nicht einmal die CDU haben sie überholt.

Ein paar Meter entfernt, im "Ritter Butzke", ging es zu dieser Zeit noch laut und lebhaft zu. Aus zwei Sälen im Hinterhof in der Ritterstraße wummerten die Bässe. Auf die Frage nach den Toiletten antwortete ein junger Mann ausgelassen: "Wir sind Piraten, wir brauchen so was nicht!"

8,9 Prozent haben am Sonntag die Piratenpartei gewählt. Erstmals zieht damit in Deutschland die junge Bewegung in ein Landesparlament ein. Ihr gutes Abschneiden verhindert nun für die SPD, erneut mit der Linken zusammenzuarbeiten. Das geht sich nicht mehr aus.

Die Sozialdemokraten müssen sich nun zwischen CDU und Grünen entscheiden - wobei es derzeit nach Rot-Grün aussieht: "Wir haben den Anspruch, für die Stadt eine linke Politik zu machen", erklärte der amtierende Bürgermeister Klaus Wowereit. Man wisse auch, dass die Bürger Rot-Grün bevorzugen würden.

Piratenpartei wirkt unkonventionell

"Ich fühle mich bescheuert, dass ihr mir so zujubelt", rief indes am Wahlabend der Spitzenkandidat der Piraten, Andreas Baum. Anders als das Spitzenpersonal etablierter Parteien hatte er keine Rede vorbereitet. Baum stand auf einer kleinen Bühne und schaute fassungslos in den Saal.

"Die Piraten werden frischen Wind ins Parlament bringen", sagte ein 35-jähriger Wähler begeistert. Die Partei wirkt authentisch, unprofessionell und unkonventionell. Dass Baum noch vor einigen Wochen nicht wusste, wie viele Schulden Berlin hat, wird verziehen. "Viele, viele Millionen", hatte er in einer TV-Sendung des Rundfunks Berlin-Brandenburg geschätzt. Es sind 63 Milliarden Euro.

Freier Internetzugang ohne Sperren und Urheberrecht in der bekannten Form: Das war das wichtigste Anliegen der Piratenpartei bei ihrer Gründung im Jahr 2006. Mittlerweile liegt der Fokus allgemein auf "Transparenz". Wie Verträge und Dokumente zustande kommen, soll für alle Bürger nachvollziehbar sein. Die Wähler sollen darüber hinaus an Entscheidungsprozessen stärker als derzeit teilhaben können. In Berlin traten die Piraten außerdem mit der Forderung nach einem bedingungslosem Grundeinkommen an.

Gewählt haben die Piraten "Parteiverdrossene" - so nennen jedenfalls die Piraten ihre Wähler. Darunter sind nicht nur Internet-affine Junge. 23.000 ehemalige Nicht-Wähler gaben jetzt den Piraten ihre Stimme. Viele Wähler kamen aber auch aus den Lagern von Grünen, Roten und Linken. Allein 17.000 einstige Grün-Wähler wechselten zu den Piraten - schmerzhaft für die Grünen, die offensichtlich immer stärker mit dem Image leben müssen, nun auch zu den "alten" Parteien zu gehören.
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Basisdemokratie lebt wieder auf

Er glaube nicht, dass man alt aussehe, sagte dagegen der Vorsitzende der Grünen, Cem Özdemir, im "Deutschlandfunk": "Wenn Sie mal schauen, wer da alles bei uns gewählt ist, das ist schon auch eine sehr junge Fraktion." Der Wahlkampf der Piraten sei aber "sehr spritzig" gewesen, das eine oder andere Plakat hätte er sich auch bei den Grünen vorstellen können - Plakate, die klarmachten, dass man frech sei und bereit, in der Politik "ein bisschen zu provozieren und ein bisschen zu ärgern".

Für den Politologen Tilman Mayer von der Universität Bonn steht indes fest, dass die Piraten eine "Art Basisdemokratie wiederaufleben" lassen würden. Und das Beste, das passieren könne, sei bei jüngeren Leuten wieder ein stärkeres Interesse an Politik zu wecken.