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Der Dschihad macht Verlierer zu Super-Helden, die Revanche nehmen, sagt der Islam-Forscher Olivier Roy. Ihr Hauptmotiv ist dabei die Rebellion und nicht die Religion.
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"Wiener Zeitung": Viele europäische Dschihadisten befinden sich in Syrien und im Irak, allein aus Frankreich sind es geschätzt 1500. Müssen wir damit rechnen, dass sie zurückkehren und unzählige klandestine Terrorzellen bilden?

Olivier Roy: Nein, diese Dschihadisten agieren nämlich nicht klandestin, die meisten von ihnen sind keine Unbekannten. Die Polizei kannte ja etwa die Namen der "Charlie Hebdo"-Attentäter. Diese Leute sprechen offen, sie twittern, haben Facebook-Profile, sie rufen ihre Freunde an, sie drehen Videos und geben Interviews. Es stellt sich aber die Frage: Was geschieht mit ihnen, nachdem sie in den Dschihad gezogen sind? Viele werden bereits an der Front getötet. Ein weiterer Teil kehrt desillusioniert aus dem Dschihad zurück. Andere wollen gar nicht nach Europa zurück, denn eine ihrer Motivationen ist es, in einem islamischen Staat zu leben. Manche Kämpfer von Daesh (Islamischer Staat) nehmen ihre ganze Familie mit - was übrigens bei Al-Kaida nie der Fall war. Eines der Gründungsmotive von Daesh war die Kritik an Al-Kaida.Im Gegensatz zur Al-Kaida war es nie die Strategie von Daesh, Schläferzellen in Europa aufzubauen. Daesh will ein territoriales Kalifat gründen. Deswegen ist die Rückkehr der Kämpfer in diesem Fall gar nicht das Hauptproblem.
Wenn man nun auf die letzten großen Attentate in Europa, die auf "Charlie Hebdo" und auf den jüdischen Supermarkt in Paris, blickt, dann fällt auf, dass die Biographien der Attentäter ähnlich sind: Die Brüder Cherif und Said Kouachi und Amedy Coulibaly kamen aus sozial angespannten Verhältnissen und waren zeitweise in Haft. Ist das typisch für Dschihadisten?
Ja. Solche Lebensläufe decken nicht das ganze Spektrum ab, unter den jungen Dschihadisten gibt es auch viele, die besser integriert und gut ausgebildet sind. Es ist schwierig, hier von genauen Zahlen zu sprechen, aber ich denke, dass zumindest 60 Prozent der Dschihadisten dieses Profil aufweisen. Davon abgesehen gibt es unter ihnen viele Konvertiten - in Frankreich sind es laut Polizei-Statistiken rund 22 Prozent. Beim Dschihad geht es also nicht nur um Moslems, die sich radikalisieren, sondern auch um junge Rebellen. Junge Nicht-Moslems, die vor 30 Jahren Linksradikalen gefolgt wären, schließen sich nun Daesh an. Aber auch bei Konvertiten finden wir dieselben Muster: Viele von ihnen konvertierten im Gefängnis. Es gibt eine starke Verbindung zwischen Dschihadismus und Delinquenz.
Der Dschihadismus dreht sozusagen die Verhältnisse um, gibt den zuvor Machtlosen eine Allmacht über ihre Opfer...
Absolut. Verzweifelte, Verlierer und Entrechtete werden plötzlich zu Super-Helden. Sie nehmen Revanche. Das wird auch deutlich, wenn man etwa betrachtet, was Coulibaly (der Geiselnehmer im jüdischen Supermarkt in Paris, Anm.) seinen Opfern vermittelte: Ich kann dich töten, nun bin ich der starke Mann. Aber die Attentäter wissen alle, dass diese Allmacht nicht von Dauer ist, sie wissen alle, dass sie sterben werden. Coulibaly hat nie versucht zu fliehen. Er wollte berühmt sein und dann getötet werden. Auch in Bekennervideos wird von Attentätern oft der eigene Tod angekündigt. Sie sind negative, nihilistische Super-Helden.
Wie weit werden sie von einer Gewaltkultur im Alltag geprägt?
Ich sage nicht, dass jeder, der ein gewalttätiges Video schaut, automatisch gewalttätig wird. Aber: In Videospielen und Filmen wie "Scarface" oder "Game of Thrones" spielen das Köpfen, Vergewaltigungen und überhaupt Gewalt eine große Rolle. Das prägt viele junge Leute. Sie finden im Dschihad - wie es auch ein Dschihadist sagte - einen "Call of Duty" (ein Computerspiel, Anm.) in der Realität.
Springen Terrormilizen auf diesen Zug auf, indem sie die Moderne - sie bewegen sich etwa geschickt in sozialen Medien - mit archaischen Motiven verbinden?
Ich würde nicht von Archaik sprechen. Vielmehr kombinieren sie Modernität mit islamischen Referenzen. Sie erzählen von den ersten Jahren der islamischen Gemeinschaft - dabei handelt es sich aber mehr um ein Phantasma als um die historische Wirklichkeit. Ich würde den Vergleich zu "Game of Thrones" heranziehen: Es spielt mit der Faszination für das Mittelalter, ist aber ein Phantasma und hat nichts mit dem Mittelalter zu tun. Bei Daesh findet man dasselbe: Es werden Referenzen zur Vergangenheit gezogen, aber in einem postmodernen, phantastischen Narrativ.
Wo finden sich nun Parallelen von jungen europäischen Dschihadisten mit früheren Linksradikalen?
Sowohl die früheren RAF-Kämpfer als auch die heutigen Dschihadisten sind Kinder einer verstummten Generation, die nicht über ihre Vergangenheit spricht. Viele Eltern junger Migranten können ihren Kindern nicht erklären, warum sie nach Europa kamen. Denn sie sind hierher gekommen, um ein besseres Leben zu haben, und genau dieser Wunsch hat sich nicht verwirklicht. Die RAF-Kämpfer wiederum hatten die nationalsozialistische Vergangenheit der Eltern-Generation scharf kritisiert. Auch junge Migranten werfen ihren Eltern vor, dass sie versagt haben, und suchen sich andere Helden. Es gibt noch eine Reihe weiterer Gemeinsamkeiten: Die Sehnsucht nach einem abstrakten globalen Ziel, der Dschihad hat dabei in einer gewissen Weise die Revolution ersetzt. Der Mangel an Wirklichkeitsbezug: Die Baader-Meinhof-Gruppe sprach vom Proletariat, ohne eine Ahnung von ihm zu haben, die jungen Dschihadisten sprechen von der Umma (die islamische Gemeinschaft, Anm.), aber sie wissen überhaupt nicht, was das in Wirklichkeit ist. Und wie die RAF machen die Dschihadisten Propaganda durch die Tat und wollen die Schlagzeilen beherrschen.
Sehen Sie auch Parallelen zwischen dem rechtsradikalen Terrorismus und dem Dschihadismus?
Ja, wir finden nun auch Rechtsradikale mit demselben Narrativ des einsamen Helden. Sie begehen eine Tat, und diese wird der letzte Akt sein. Ein Beispiel dafür ist Anders Breivik. Er hat sich nicht getötet, aber es war ihm klar, dass er im Gefängnis landen wird. Er hat Videos genau so wie Dschihadisten eingesetzt. Es zeigt sich dieselbe Faszination für Mord, für Waffen, für den einsamen Kampf, für Nihilismus, es zeigt sich eine apokalyptische Sicht auf die Welt.
Sie haben bereits den Konflikt junger Dschihadisten mit ihren Eltern angesprochen. Inwieweit bekämpfen die Jungen auch die Religionsauffassung ihrer Eltern und bestimmte Strömungen im Islam?
Sie erkennen die Religion ihrer Eltern nicht an. Sie sagen, diese würden einem kulturellen, nationalen Islam folgen, ihr Islam hingegen sei wahr und rein. Generell wollen Gruppen wie Daesh tabula rasa machen. In Syrien zerstören sie Moscheen und Gräber. Der Islam ist für sie ein Baukasten abstrakter Normen ohne Verbindung zu Kultur, Geschichte und Gesellschaft. Sie bekämpfen auch ganz stark moderate Moslems.
Sind hier nicht auch Golfstaaten wie Saudi-Arabien ein Problem, die eine sehr rigide Auslegung des Islams in alle Welt exportieren?
Die Golfstaaten finanzieren nicht Terroristen, sondern Salafisten, wahhabitische Prediger. Sie meinen, da bestünde ein Unterschied. Es stellt sich nun aber die Frage: Bis zu welchem Grad ist der Dschihadismus das Ergebnis einer religiösen Radikalisierung? Ich denke, der Sachverhalt ist komplexer. Viele der jungen Dschihadisten wurden nicht religiös geschult, nur wenige von ihnen haben jemals eine Moschee besucht. Die meisten radikalisieren sich in dem Moment religiös, in dem sie sich auch politisch radikalisieren. Aber wenn sie dann radikal werden, dann bezeichnen sie sich als Salafisten. Und es stimmt: Dass Saudi-Arabien hauptsächlich eine wahhabitische und salafistische Auslegung des Islams finanziert, ist keine Hilfe. Denn auch, wenn diese Prediger gegen den Dschihad sind, predigen sie einen Islam, der gegen den Westen eingestellt ist, einen Islam, der nicht nur westliche Kultur, sondern Kultur überhaupt ablehnt. Somit sprechen sie sich gegen Integration aus.
Die Rebellion kommt ihrer Meinung nach bei jungen Dschihadisten also vor der Religion?
Die Rebellion ist eindeutig ihr Hauptmotiv. In der Religion finden sie dann einen Vorwand.
Zur Person:
Olivier Roy
ist einer der anerkanntesten Forscher zum Islam. Er studierte Philosophie, persische Sprache und Kultur sowie Politikwissenschaft in Paris und ist nun Professor am European University Institute in Florenz. Der einstige Berater des französischen Außenministeriums hat zahlreiche Bücher zum Islam veröffentlicht, etwa "Der islamische Weg nach Westen. Globalisierung, Entwurzelung und Radikalisierung".
Olivier Roy war auf Einladung des Bruno Kreisky Forum für internationalen Dialog in Wien Zu Gast.