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Die Poesie der Professoren

Von Hermann Schlösser

Reflexionen
Es waren einmal zwei Brüder: Wilhelm (links im Bild)und Jacob Grimm
© Corbis

DIe Brüder Grimm waren längst nicht so volkstümlich, wie ihre Märchen glauben machen.


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Es waren einmal zwei Brüder, die waren unzertrennlich. Der ältere hieß Jacob, der jüngere Wilhelm, und eines Tages machten sich die beiden auf den Weg und fingen an, all die Märchen aufzuschreiben, die im deutschen Volk beliebt waren. Sie wanderten durch die Dörfer ihrer hessischen Heimat, klopften an die Türen und fragten freundlich: "Wisst Ihr nicht ein paar schöne alte Märchen für uns?" Die Bauern und vor allem die Bäuerinnen ließen sich nicht lange bitten und erzählten vom Rotkäppchen und vom König Drosselbart, von Hänsel und Gretel, vom tapferen Schneiderlein. Die zwei emsigen Brüder schrieben alles genau so auf, wie es ihnen erzählt wurde, und am Ende ihrer langen Wanderung hatten sie ein

stattliches Buch beisammen: die "Kinder und Hausmärchen, gesammelt durch die Brüder Grimm". Und wenn Jacob und Wilhelm in der Zwischenzeit auch gestorben sind, so leben doch ihre Märchen bis zum heutigen Tage weiter und erfreuen Kinder wie Erwachsene.

So klingt die Lebensgeschichte der Brüder Grimm, wenn sie in jenem sanft säuselnden Märchenton erzählt wird, der zu den wichtigsten Hinterlassenschaften der beiden Geschichtenerzähler gehört. Aber wie alle Märchenerzählungen ist auch diese zu schön, um völlig wahr zu sein. Ganz so volksnah und naturbelassen sind die Brüder Grimm gewiss nicht gewesen.

Ahnherren der Germanistik.

Jacob Grimm (1785 - 1863) und sein Bruder Wilhelm (1786 - 1859) waren im Hauptberuf Wissenschafter. Der Ausbildung nach waren sie Juristen, aber ihr wahres Interesse galt der damals neuen Disziplin der Germanistik. Da sich auf diesem Fachgebiet zunächst noch keine geregelten akademischen Laufbahnen eröffneten, waren die Brüder auf diverse Brotberufe angewiesen. Nur nebenher arbeiteten sie an ihren Forschungen. Das herausragende Werk dieser frühen Phase ist die vierbändige "Deutsche Grammatik" (1822 - 1837), in der Jacob Grimm die Grundlagen für ein historisches Verständnis der deutschen Sprache legte. 1830 wurde Jacob schließlich ordentlicher Professor an der Universität Göttingen, ein Jahr später folgte ihm sein Bruder dorthin. 1837 hob König Ernst August I. die Landesverfassung des Königreichs Hannover auf, weil sie ihm gar zu freiheitlich war. Gegen diesen Willkürakt ihres Landesherrn protestierten sieben Göttinger Professoren. Sie wurden daraufhin ihrer Ämter enthoben, gewannen aber die Verehrung aller freiheitsliebenden Deutschen. Zu diesen "Göttinger Sieben", wie sie bald genannt wurden, gehörten auch die Brüder Grimm. Sie mussten das Land Hannover verlassen und ihre Wissenschaft zunächst wieder als Privatgelehrte betreiben.

Dann aber kam es doch zu einem geradezu märchenhaften Ende: 1840 wurden beide Brüder an die damals schon sehr renommierte Berliner Universität berufen, wo sie für den Rest ihres Lebens forschten und lehrten. Es stand schon für die Zeitgenossen fest, dass Jacob Grimm der überragende wissenschaftliche Geist war, während Wilhelm eher den ästhetischen Typus des homme de lettres verkörperte. Aber bei allen Unterschieden waren die Brüder unzertrennlich. Sie wohnten in ein und derselben Wohnung, obwohl Wilhelm eine Familie gegründet hatte und Jacob sein Leben als Hagestolz zubrachte.

Das größte Projekt ihrer späten Jahre war das "Deutsche Wörterbuch", das nichts Geringeres anstrebte als ein Gesamtverzeichnis aller deutschen Vokabeln. Der erste Band dieses ambitionierten Unternehmens erschien 1854, der letzte erst 1961!

Und wo bleiben die Märchen?

Die Romantiker waren fasziniert von der "Volkspoesie", die sich nicht einem bestimmten Dichter verdankte, sondern in der Mitte des Volkes spontan entstanden und mündlich weitergegeben worden ist. Da man jedoch befürchten musste, dass die alten Überlieferungen im Strudel der modernen Zeit untergehen würden, begann um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert eine rege Sammlertätigkeit. 1806 gaben Clemens von Brentano und Achim von Arnim die Volkslieder-Anthologie "Des Knaben Wunderhorn" heraus. Danach wollte Brentano auch alte Märchen sammeln, und er bat die damals noch jungen Brüder Grimm, ihm dabei behilflich zu sein. Allerdings verlor der Dichter bald das Interesse an dem Projekt, während es die beiden Philologen beharrlich weiter verfolgten: 1812 - also in einer Zeit, in der sich das deutsche Nationalbewusstsein im Widerstand gegen Napoleon Bonaparte artikulierte - erschien eine erste Ausgabe der "Kinder- und Hausmärchen".

Doch sammelten die Brüder auch später immer weiter, so dass ihre Märchenkollektion in insgesamt zwölf verschiedenen Fassungen überliefert ist. Ihre wichtigsten Informanten waren allerdings nicht jene einfachen Bauersleute, die nach romantischer Vorstellung die wahren Hüter der Volkskunst waren. Stattdessen wurden die Brüder Grimm am eifrigsten von bürgerlichen Freunden und - vor allem - Freundinnen beliefert. Das verrieten die beiden ihren Lesern allerdings nicht. Die einzige Quelle, deren Namen sie offiziell preisgaben, war Dorothea Viehmann, die sie ihrer Leserschaft als "Bäuerin aus dem nah bei Cassel gelegenen Dorfe Zwehrn" vorstellten. In der Tat hat diese Frau Viehmann den Brüdern eine Reihe von Märchen erzählt; doch war sie keine Bäuerin, sondern die Witwe eines Schneiders. Überdies stammte sie aus einer hugenottischen Familie, weshalb sie den Grimms auch Märchen französischen Ursprungs erzählte. Diese Fakten sind den heutigen Literaturhistorikern bekannt, während die Brüder Grimm darum bemüht waren, sie vor ihrer Leserschaft zu verschleiern: Sie erklärten "die Viehmännin" zur schlichten Bauersfrau und ihre Erzählungen zum genuin deutschen Erbe.

Zwei Mal "Froschkönig"

Interessanter als die Frage nach den Quellen ist allerdings der Wortlaut der Texte. Vergleicht man die unterschiedlichen Fassungen, in denen die Märchen überliefert sind, so zeigt sich, dass die Texte immer wieder neu bearbeitet wurden: Von Ausgabe zu Ausgabe wurden die Märchen einerseits kindgerechter, andererseits literarischer.

Um ein Beispiel für diese Entwicklung zu geben: Alle Ausgaben der "Kinder- und Hausmärchen" beginnen mit derselben Geschichte, nämlich dem "Froschkönig". In den ersten Notizen der Brüder aus dem Jahr 1810 kommt dieses bekannte Märchen noch sehr ungehobelt daher: "Die jüngste Tochter des Königs ging hinaus in den Wald, und setzte sich an einen kühlen Brunnen. Darauf nahm sie eine goldene Kugel und spielte damit, als diese plötzlich in den Brunnen hinabrollte." In der Ausgabe letzter Hand aus dem Jahr 1857 hingegen hat sich dieses Rohmaterial in ein Glanzstück deutscher romantischer Prosa verwandelt: "In den alten Zeiten, wo das Wünschen noch geholfen hat, lebte ein König, dessen Töchter waren alle schön, aber die jüngste war so schön, dass die Sonne selber, die doch so vieles gesehen hat, sich verwunderte, sooft sie ihr ins Gesicht schien. Nahe bei dem Schlosse des Königs lag ein großer dunkler Wald, und in dem Walde unter einer alten Linde war ein Brunnen; wenn nun der Tag recht heiß war, so ging das Königskind hinaus in den Wald und setzte sich an den Rand des kühlen Brunnens; und wenn sie Langeweile hatte, so nahm sie eine goldene Kugel, warf sie in die Höhe und fing sie wieder; und das war ihr liebstes Spielwerk."

Erst spät begegnet man also diesem typisch Grimmschen Märchenton. Und das ist auch nicht verwunderlich, denn genau dieser Ton wurde keineswegs dem Volksmund abgelauscht. Er entstand in einem langen, kreativen Prozess am Schreibtisch, und sein Erfinder war Wilhelm Grimm, der, wie schon gesagt, literarisch begabter war als sein wissenschaftlich strenger Bruder.

Literaturtipps.

Brüder Grimm: Kinder- und Hausmärchen. Ausgabe letzter Hand mit den Originalmanuskripten der Brüder Grimm. Mit einem Anhang herausgegeben von Heinz Rölleke. 3 Bände, Reclam Verlag Stuttgart 2001.

Heinz Rölleke (Hrsg.): Die wahren Märchen der Brüder Grimm. Fischer Verlag Frankfurt, 2003 (enthält die später verworfenen Vor- und Frühstufen).

Steffen Martus: Die Brüder Grimm. Eine Biographie. Rowohlt Verlag Berlin 2009.

Veranstaltungstipp.

Wiener Volksoper: Hänsel und Gretel. Oper von Engelbert Humperdinck. Inszenierung: Karl Dönch. Termine: 23.12.2010, 18.00 Uhr. 25.12.2010, 14.00 Uhr und 18.00 Uhr. 29.12.2010, 18.00. 3.1.2011, 19.00 Uhr.