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Vor 2400 Jahren entdeckten die alten Griechen ein neues Lebensgefühl, das zur Trennung von Politik und Moral führte. Klingt erstaunlich modern.
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Menschen jüngeren Jahrgangs glauben ja, die Sache mit der Politikverdrossenheit ist eine Erfindung der allerletzten Jahrzehnte. Und die älteren unterstützen sie dabei nach Kräften. Während unter Kreisky - wie auch sonst? - selbstredend noch alles wunderbar war, setzte mit den 80er Jahren der Niedergang ein mit der tristen Gegenwart als traurigem Höhepunkt.
So steht es mannigfach geschrieben, also wird es wohl auch so sein.
Stimmt nur nicht. Erfunden haben den Politikfrust nämlich wie so vieles die alten Griechen, und zwar gegen Ende des 4. Jahrhunderts v. Chr.; damals war gerade ein gewaltiger geistiger Umbruch im Gange, über dessen bis heute anhaltende Folgen der britisch-jüdisch-russische Philosoph Isaiah Berlin (1909-1997) in den 60er Jahren schrieb: "Zum ersten Mal gewinnt die Idee an Boden, dass die Politik ein schmutziges Geschäft sei, das des Klugen und Guten nicht wert sei. Die Spaltung von Moral und Politik wird absolut. (. . .) Nicht die öffentliche Ordnung, nur das persönliche Heil ist noch von Bedeutung."
Klingt seltsam vertraut, was die alten Griechen vor 2400 Jahren so dachten. Zumal sie noch unmittelbar zuvor ganz anders philosophierten. Öffentliches, vor allem politisches Engagement für die Gemeinschaft, in der Polis zumal, war da noch untrennbar verbunden mit der Idealvorstellung von einem gelungenen Leben. Das Ich spielte da noch eine untergeordnete Rolle, weil über allem das Wir stand: Der Mensch war eben noch ein zoon politikon, ein zwangsläufig soziales und politisches Wesen.
Doch mit der Zerstörung der meisten Stadtstaaten durch Philipp von Makedonien und seinen Sohn Alexander kam den Griechen ihr politischer Bezugspunkt abhanden. Ihre Vorstellungen von Politik ließen sich in einem Großreich nicht mehr umsetzen. An die Stelle des Diensts an der Gemeinschaft trat Selbstverwirklichung der persönlichen Bedürfnisse, die Suche nach dem je eigenen Glück.
Für den Denker Berlin ist dieser Paradigmenwechsel die Geburtsstunde des griechischen Individualismus, ein Wendepunkt in der Geschichte der abendländischen politischen Philosophie.
Möglicherweise ist es nur Zufall, aber wie den Griechen vor 2400 Jahren ist auch uns der gewohnte Rahmen für politisches Engagement mit der Erosion des Nationalstaats abhanden gekommen. Wir wählen zwar brav auf allen Ebenen, die es eben zu wählen gilt; das ändert nur nichts am Gefühl, dass keine Ebene wirklich über den passenden Hebel verfügt, die Probleme zu lösen.
Europa gilt zwar allenthalben als großes Zukunftsversprechen, aber als Bezugspunkt für gemeinschaftliches Handeln ist es noch längst nicht in unseren Köpfen verankert. Das Neue ist noch kein Ersatz für das zerbröselnde Alte. Und davon profitieren all jene, die "Politik ein schmutziges Geschäft" ansehen.
Allerdings: Gut 200 Jahre später feierte das Engagement für die öffentlichen Angelegenheiten im Rahmen der römischen Republik ein beeindruckendes Comeback. Die Spaltung von Moral und Politik demnach ist umkehrbar. Es dauert halt noch.