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Die politische Treibjagd ist eröffnet

Von WZ-Korrespondentin Karin Rogalska

Europaarchiv

Orban lenkt von sinkender Popularität ab. | Sozialisten werfen der Regierung einen "Rachefeldzug" vor.


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Budapest. "Dieser Verrückte muss nichts als weg!" Ferenc Gyurcsany war in Budapest noch Premier, als dieser Satz beim rechtskonservativen Fidesz längst die Runde machte. Gemeint war damit nicht nur die Entthronung des sozialistischen Politikers. Vielmehr "werden wir restlos und mit allen Mitteln mit ihm aufräumen", verkündeten die Anhänger des heutigen Ministerpräsidenten Viktor Orban.

Insofern ist es ein alter Hut, wenn der inzwischen mit satter Zwei-Drittel-Mehrheit regierende Fidesz nunmehr Orbans Vorgänger, neben Gyurcsany den parteilosen Gordon Bajnai, möglicherweise sogar strafrechtlich, für den drastischen Anstieg der Staatsverschuldung von 53 auf 82 Prozent zwischen 2002 und 2010 belangen und dafür sogar rückwirkend Gesetze ändern will. Nur dass dieses Vorhaben eben gerade erst öffentlich gemacht wurde.

Aus Sicht des Ministerpräsidenten scheint es gleichgültig, ob die mutmaßliche Misswirtschaft überhaupt dazu taugt, das Rechtsprinzip auszuhebeln, wonach eine Bestrafung menschlichen Handelns nur möglich ist, wenn es schon zum Zeitpunkt seiner Begehung strafbar ist. Orban beruft sich auf höhere Gerechtigkeit, mehr noch scheint es ihm allerdings um politische Folgerichtigkeit zu gehen. Seiner ständiger Lesart zufolge waren Gyurcsany wie Bajnai als Vorhut der Sozialisten "rechtswidrig" im Amt, seit Gyurcsany in seiner im Herbst 2006 öffentlich gewordenen "Lügenrede" selbst eingeräumt hatte, die Sozialisten hätten das Volk über den Zustand der Wirtschaft belogen.

Deshalb boykottierte der Fidesz bis kurz vor dem Machtwechsel die Parlamentssitzungen, in denen der Regierungschef auftrat. Orban hatte außerdem einen Grund, sich im Wahlkampf auf Allgemeinplätze zu beschränken. Ehrlicherweise könne er keine präzisen Versprechungen machen, weil er gar keinen Überblick habe, wie der "Gyurcsany-Klon Bajnai", wie er in Fidesz-nahen Medien bezeichnet wurde, die Staatsfinanzen hinterlasse.

Mangelnder Elan Orbans in Wirtschaftsfragen

Auch der mangelnde Elan, welcher Orban teilweise bis heute in wirtschaftspolitischen Fragen vorgehalten wird, wird damit begründet, man habe noch keinen Überblick über die vorgefundene Misswirtschaft. Die Frage, ob Fidesz als Oppositionspartei ihre Hausaufgaben gemacht hat, indem sie etwa Budgetentwürfe hinterfragte, wird bei all dem nicht aufgeworfen.

Es war zu erwarten, dass Orban in diesen Tagen zum großen Schlag gegen die Sozialisten ausholen würde. Nach der ungarischen EU-Ratspräsidentschaft die selbst Orban-Vertraute hinter vorgehaltener Hand, als "abgesehen vom grünen Licht für Kroatien unglücklich gelaufen" bezeichnen, muss er nach außen wie nach innen Schadensbegrenzung betreiben. So lässt er sich vom früheren Präsidenten des EU-Parlaments Hans-Gert Pöttering hofieren, der auffallend oft sein Wohlwollen für Orban bekundet.

Bei seinen Landsleuten hat Orban deutlich an Popularität eingebüßt und muss gegensteuern. Der Premier könnte zwar weiterhin allein regieren, aber längst nicht mehr mit überwältigender Mehrheit. Viele Ungarn hat er bei wichtigen Themen gegen sich aufgebracht. Dem Wochenmagazin "hvg" zufolge billigen mehr als zwei Drittel die Mediengesetzgebung unter Orban nicht. Rund drei Fünftel nehmen ihm die Pensionsreform übel, mit der private Altersvorsorge seit Februar nahezu ausgeschlossen ist.

Härte gegen Orbans politische Erzfeinde, die Sozialisten, scheint in dieser Situation das erste Gebot. Sie fügt sich bestens in Orbans allgegenwärtige politische Aufräumarbeiten, im Zuge derer er immer wieder Nationalbank-Gouverneur Andras Simor attackiert oder unliebsame Medienmitarbeiter ihren Hut nehmen müssen.

Die Sozialisten (MSZP), die in Umfragen bei etwa zehn Prozent vor sich hindümpeln, bezeichneten die von der Regierung angekündigte Gesetzesänderung als Rachefeldzug. Imre Szekeres, Leiter des Wirtschaftskabinetts der MSZP, erklärte, seine Partei nehme nicht an der Arbeit des gegründeten Parlamentsausschusses für die Überprüfung der Staatsschulden teil. Auch die oppositionellen Grünen (LMP) lehnen eine solche Tätigkeit ab.

Sozialisten werfen Orban Irreführung vor

Imre Szekeres warf der Regierung von Ministerpräsident Viktor Orban vor, die Menschen "irrezuführen". Orban habe nicht wie behauptet die Staatsschulden um vier Prozent gesenkt, sondern diese lediglich kompensiert. So habe er mit der Verstaatlichung der Privatrenten die Staatskassen aufgefüllt. Der MSZP-Politiker erinnerte weiter an die Regierung von Gyula Horn (1994-1998), die die Staatsschulden von 90 auf 62 Prozent des Bruttoinlandsproduktes (BIP) im Jahresdurchschnitt um neun Prozentpunkte senkte, das Doppelte jener Zahl, auf die Viktor Orban heute "so stolz ist".

Szekeres erinnert weiter daran, dass die ungarischen Staatsschulden, so wie in vielen anderen europäischen Ländern, erst mit der Wirtschaftskrise über 70 Prozent gestiegen seien.