Der Protestforscher Christoph Steinhardt erklärt, warum die Corona-Demonstrationen für Chinas Regime bedrohlich sind.
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Mit so einem geballten Unmut war Chinas Führung schon lange nicht mehr konfrontiert: Von der Provinz Xianjiang im Westen bis zur Metropole Shanghai im Osten gingen in den vergangenen Tagen Menschen auf die Straße, um gegen die harschen Corona-Maßnahmen zu protestieren. Was diese Demonstrationswelle für die Kommunistische Partei bedeutet und welcher Nachhall von ihr bleiben wird, darüber sprach die "Wiener Zeitung" mit dem Sinologen und langjährigen Protestforscher Christoph Steinhardt.
"Wiener Zeitung": Proteste gibt es in China gar nicht so selten, immer wieder demonstrieren Menschen in einzelnen Regionen, etwa wegen Umweltschäden oder schlechter Arbeitsbedingungen. Trotzdem werden die nun ausgebrochenen Corona-Proteste als etwas Besonderes angesehen. Teilen Sie diese Einschätzung?
Christoph Steinhardt: Ja, diese Proteste haben einen besonderen Charakter. Das liegt zum einen daran, dass sie sich synchron im ganzen Land formiert haben, und zum anderen daran, dass teilweise Forderungen gestellt wurden, die die Grundfesten des politischen Systems betreffen.
Meinen Sie damit die Forderungen, die direkt zum Aufstand gegen die Kommunistische Partei und Staatschef Xi Jinping aufriefen?
Das ist nur von einem Ort, nämlich von Shanghai, überliefert. Aber vielerorts gab es Rufe nach Pressefreiheit und Rechtsstaatlichkeit, und die weißen Papiere, die in die Höhe gehalten werden, sind ein Statement gegen die Zensur. Wenn man diese Forderungen umsetzen würde, müsste sich das ganze politische System ändern. Deshalb sind diese Proteste auch bedrohlich für die Partei.
Ist damit aus dem Protest gegen die Corona-Maßnahmen ein politischer Protest geworden, oder bleibt das Hauptanliegen eine Lockerung der harschen Corona-Maßnahmen?
Grundsätzlich ist es ein Protest gegen die Corona-Maßnahmen, doch hat er sich teilweise mit politischen Forderungen vermischt, die nun mitschwingen. Das ist bemerkenswert: Auch wenn es oft Proteste in China gibt - dass solche Forderungen gestellt werden, geschieht äußerst selten, und alle Beteiligten wissen, welches Risiko sie dabei eingehen. Dass Demonstranten im ganzen Land so eine Gefahr auf sich nehmen, ist ein Indikator, dass es fundamentale Unzufriedenheiten gibt. Einige Chinesen sind offenbar zur Überzeugung gelangt, dass sich an ihren Unzufriedenheiten nichts ändert, wenn nicht auch politische Veränderungen stattfinden.
Das heißt, dass bei den Protesten gegen lokale Missstände die Zentralregierung meistens verschont wird und das diesmal anders ist.
Ja, das gewöhnliche Muster ist, dass Demonstranten vage Verlautbarungen der Zentralregierung nutzen und deren Implementierung auf lokaler Ebene kritisieren. So verschaffen sie sich Legitimitätsspielraum: Denn sie protestieren ja auf diese Weise nicht gegen die Zentralregierung, sondern gegen unfähige lokale Kader. Solche Proteste finden ständig statt, und es ist auch nicht das Ziel der Regierung, all diese Kundgebungen zu unterbinden. Sie will der Bevölkerung auch Raum geben, Unzufriedenheiten auszudrücken und so lokalen Offiziellen im Nacken zu sitzen. Das ist jetzt anders, wobei man bei der Bewertung auch vorsichtig sein muss: Einzelne Aufstände gegen die Corona-Maßnahmen, etwa gegen Lockdowns in bestimmten Wohnblocks, richten sich nach wie vor gegen die Umsetzung durch die lokalen Behörden. Das ändert aber nichts daran, dass derzeit auch ein großer Unmut gegenüber der Zentralregierung mitschwingt.
Eine der größten Ängste des Regimes ist, dass sich das Szenario von 1989 wiederholt, als ausgehend vom Pekinger Tiananmen-Platz im ganzen Land Massenproteste gegen die Staatsführung um sich griffen. Inwieweit ist die heutige Situation mit 1989 vergleichbar?
Es ist heute ein wesentlicher Unterschied zu 1989, dass der Sicherheitsapparat viel besser aufgestellt ist. In den 1980er Jahren waren die Polizeikräfte noch überhaupt nicht darauf trainiert, mit Demonstrationen umzugehen. Mit den jetzt ausgebrochenen Protesten gehen die Sicherheitskräfte recht routiniert um: Zum einen operieren sie reaktiv, indem sie einzelne Verhaftungen durchführen, ohne es dabei zu übertreiben. Gleichzeitig gehen sie systematisch vor, indem sie etwa große Präsenz auf Plätzen zeigen, auf denen man sich versammeln könnte. Das macht weitere große Mobilisierungen sehr schwer. Wobei allerdings nun mit dem Tod von Jiang Zemin ein weiterer Faktor hinzugekommen ist.
Inwiefern kann das die Dynamik noch einmal verändern?
Tode von politischen Führern haben immer wieder als Aufhänger für Proteste gedient. Die Demonstrationen von 1989 wurden auch durch den Tod des ehemaligen Generalsekretärs Hu Yaobang ausgelöst. Solche Ereignisse machen die Lage für die Partei schwierig. Denn sie kann Trauerfeiern für einen Parteiführer nur schwer verbieten, gleichzeitig will sie nicht, dass diese für politischen Protest genutzt werden.
Gleichzeitig ist China der weitreichendste Überwachungsstaat, den es je gegeben hat. Mit Tracing-Apps, Videoüberwachung samt Gesichtserkennung oder dem Mitlesen auf sozialen Medien verfolgt die Partei ihre Bürger. Ist es da nicht umso überraschender, dass es überhaupt schon zu solch starken Protesten kommen konnte?
Ja, und besonders erstaunlich ist dabei, dass es nicht gelungen ist, die Versammlungen an den Universitäten zu verhindern. Die Hochschulen werden nämlich am allerstrengsten kontrolliert. Laut dem Singapur-basierten Medienportal Initium Medien kam es an 79 Universitäten zu Kundgebungen. Warum das geschehen konnte, darüber kann man nur spekulieren. Eine Möglichkeit ist aber, dass es unter den Verantwortlichen auf den Universitäten eine gewisse Sympathie für die Proteste gab. Wenn dem so ist, hat die Parteiführung durchaus Grund, sich Sorgen zu machen.
Auch wenn es dem Regime gelingt, die Proteste wieder einzufangen - wird trotzdem ein Nachhall bleiben?
Dass solche politischen Forderungen artikuliert wurden, wird einen Nachhall haben. Es macht einen Unterschied, ob man sich so etwas privat denkt oder auf der Straße mit anderen artikuliert. Die politischen Slogans, die entstanden sind, werden wieder auftauchen. Die Idee, dass systemisch ein Problem besteht, wird wohl nicht so schnell wieder verschwinden.