Gastkommentar: Eine Selbstreflektion der Europäischen Union ist schon lange überfällig.
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Die EU hat viele Weckrufe erhalten, aber keiner war so durchschlagend wie die britische Entscheidung am 23. Juni, das gesamte Projekt zu verlassen. "Take back control" - das war die eine starke Botschaft, der Slogan "BeLeave" die andere. Der Brexit gab den Menschen Hoffnung und Glauben an sich selbst - etwas, das die Europäische Union nicht geben konnte.
Was hat die EU vom Brexit gelernt? Sie muss transparenter und demokratischer werden und für ihre Bürger da sein. Diese Slogans haben wir oft gehört, doch ein Konsens über die Zukunft der Union fehlt.
Vor dem Referendum sprach Donald Tusk, der Präsident des Europäischen Rates, von utopischen Illusionen der führenden Politiker, die den Kontakt zu den Menschen verloren hätten, und von Risiken, wenn man weiter an Boden gegenüber den Populismus verliere. Die Utopie, auf die er sich bezog, war die Schaffung eines Europas ohne Nationalstaaten, ohne widersprüchliche Interessen und Ambitionen. Die Besessenheit von Integration, so behauptete er, bedeute, dass die führenden Politiker es übersehen hätten, dass Menschen von großen Visionen enttäuscht seien, stattdessen jedoch reale Lösungen für die Gegenwart suchten.
Tusk brachte die Frustration vieler Menschen im Vereinigten Königreich zur Sprache, in deren Augen die EU, statt Probleme zu lösen, selbst ein Teil des Problems sei. Er schlussfolgerte, dass die Vision einer europäischen Föderation wohl kaum die beste Antwort auf die neuen Herausforderungen sei. In der Welt nach dem Brexit-Referendum scheint es nun, dass mehr Flexibilität und Autonomie der Mitgliedstaaten die EU nicht zerbrechen, sondern sie retten könnten. Wie der deutsche Finanzminister Wolfgang Schäuble vor dem britischen Referendum sagte: "Wir könnten als Antwort auf einen Brexit nicht einfach mehr Integration fordern. Das wäre plump, viele würden zu Recht fragen, ob wir Politiker noch immer nicht verstanden haben."
Februar-Plan und Reform
In der Vergangenheit war die EU kreativ und reagierte auf die Unterschiede in den Nationalstaaten. Bei der im Februar mit dem Vereinigten Königreich erzielten Einigung wurde anerkannt, dass von den Mitgliedstaaten verschiedene Ziele verfolgt werden können. Der Ausdruck "Ever Closer Union" war als Teil einer zukünftigen Vertragsreform zu überprüfen. Nicht nur Großbritannien, sondern auch die Niederlande und die skandinavischen Länder sind nicht damit zufrieden, wie sich die EU entwickelt hat.
Faktum ist: "One size does not fit all." Manche Länder sind in der Nato, andere nicht, manche sind neutral, andere spielen eine aktive Rolle in der westlichen Allianz. Die Kritik gegen mehr Flexibilität liegt darin, dass dies zu den Schrecken des Nationalismus und zu Kriegen wie in der Vergangenheit führe. Der Begriff "national" muss jedoch nicht zwangsweise im Widerspruch zum europäischen Ideal gesehen werden. In Europa sympathisieren viele mit den Gedanken der Scottish National Party, das Vereinigte Königreich zu verlassen. Die Partei ist eine progressive Kraft, die auf eine Sozialreform-Agenda drängt. Sie ist Europa und dessen Werten verpflichtet. Wenn Regionen, lokale Gemeinschaften und Mitgliedstaaten mit der europäischen Ebene zusammenarbeiten würden, anstatt sich darüber zu zanken, wer wem die Show stiehlt, wären sie stärker.
Das im Februar ausgearbeitete Paket zwischen der EU und Großbritannien, das in Kraft getreten wäre, wenn die Briten für den Verbleib in der EU gestimmt hätten, enthält Fragmente einer Reform. Es war kein Generalplan; zum Beispiel wurden das Budget und landwirtschaftliche Subventionen ausgeklammert. Die Indexierung der Kinderbeihilfen wäre für alle 28 EU-Länder offen gewesen, und Österreich wäre eines der ersten Länder gewesen, die sie für sich beansprucht hätten.
Veränderungen bezüglich der Arbeitnehmerfreizügigkeit waren vorgesehen: eine temporäre Notbremse in Ausnahmefällen, von der ebenfalls auch andere Mitglieder Gebrauch gemacht hätten. Es sind vier Freiheiten im EU-Projekt, die noch nicht absolut oder annähernd erfüllt sind. Im Paket war auch der Gedanke enthalten, das Subsidiaritätsprinzip zu stärken, um der Rolle nationaler Parlamente gerecht zu werden. Zusätzlich sollte die Gesetzgebung vereinfacht und verständlicher gemacht werden, um die stärkere Einbeziehung der Bürger zu ermöglichen.
Reformen - aber welche?
Der Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU wird das Kräfteverhältnis auf dem Kontinent verändern, und wie Finanzminister Schäuble bereits sagte: Ein Staat allein kann Europa nicht anführen, besonders nicht Deutschland. Die Menschen wollen Lösungen für das Migrationsproblem, für den Terrorismus, und sie suchen dafür politische Führung in verschiedenen Ländern. In manchen Fällen wird das mehr Europa bedeuten, wie der EU-Abgeordnete Guy Verhofstadt in der Brexit-Debatte unmittelbar nach dem Referendum meinte. Er schloss mit den dramatischen Worten: "Europa muss sich reformieren oder sterben." Jedoch lehnte er ein Europa mit Nationalstaaten auf Grundlage der Einstimmigkeitsregel ab.
Die Welt nach dem Brexit bleibt demnach ungewiss, sogar nachdem das Vereinigte Königreich Artikel 50 anwendet. Sie bleibt nicht zuletzt deshalb ungewiss, weil Europa nicht sicher ist, in welche Richtung es zu gehen hat. Nicht nur die Befürworter des Brexit benötigen einen detaillierten Plan, gerade Europa könnte jetzt einen brauchen. Die Devise könnte lauten: Flexibilität, Offenheit und Reformen, F.O.R. Europa. Die Post-Brexit-Ära sollte eine lang überfällige Selbstreflektion für die EU einleiten.
Der vorliegende Text ist ein Auszug aus dem Buch "25 Ideen für Europa", das im Eigenverlag der Österreichischen Gesellschaft für Europapolitik erscheint. Kostenlose E-Book-Version unter: www.oegfe.at/25ideenfuereuropa