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Gregor Gysi über Ursachen und Folgen der Flüchtlingskrise und Deutschlands verfehlte Russland-Politik.
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"Wiener Zeitung": Herr Gysi, Sie melden sich trotz Ihres Abgangs als Fraktionsführer im Herbst immer noch zu Wort. Zum Beispiel haben Sie Ihre Fraktionsvorsitzende Sahra Wagenknecht kritisiert, die zur Asyldebatte gesagt hat, wer das Gastrecht missbrauche, habe es verwirkt. Sind Sie unzufrieden mit Ihrer Nachfolgerin?
Gregor Gysi: Nein, unzufrieden bin ich nicht. Sahra setzt eben manchmal Dinge in die Welt, ohne ihre Aussagen vorher fraktionsintern abzusprechen. In dem Fall geht es ja nicht um Gastrecht, sondern um Völkerrecht. Es gibt die Flüchtlingskonvention. Wir haben ein Grundrecht auf Asyl. Angenommen, wir hätten eine Obergrenze beschlossen, und dann käme einer, der in seiner Heimat mit der Todesstrafe rechnen muss, über die Grenze. Da können wir ihm doch nicht sagen, tut uns leid, einen Platz vorher wär’s noch gegangen, aber Du musst jetzt leider hingerichtet werden. Was wir brauchen, sind Kriterien: Wer ist wirklich in Not? Und wir müssen die Ursachen der Flucht bekämpfen.
Wie stellen Sie sich die Bekämpfung der Fluchtursachen vor?
Erst einmal muss Krieg als Mittel zur Lösung der Probleme ausscheiden. Diese Politik war in Afghanistan falsch, sie war im Irak und in Libyen falsch. Und dann müssen wir auch mit Syriens Präsidenten Bashar al-Assad reden. Natürlich ist das ein Diktator, das weiß ich, aber der König von Saudi-Arabien ist auch ein Diktator. Völkerrechtlich ist der Kampf gegen den Islamischen Staat (IS) bis jetzt nicht gedeckt. Es gibt keinen Beschluss des UN-Sicherheitsrates. Der Westen hat ja nicht einmal die nominelle Regierung gefragt - das hat Russland immerhin noch gemacht, die haben ja wenigstens die Genehmigung von Assad. Der Krieg muss beendet werden. Und dann müssen wir endlich die Schlüsse ziehen, dass die Kriege in Afghanistan, im Irak und in Libyen falsch waren und dass das nicht mehr unser Weg sein wird. Wir dürfen auch nicht ständig versuchen, unsere Kultur dort hinzusetzen, wie in Afghanistan. Das geht immer schief. Wir haben versucht, die Welt zu verwestlichen. Und jetzt gibt’s einen harten terroristischen Kern, der versucht, uns zu entwestlichen. Und damit können wir ganz schwer umgehen.
"Nie wieder Krieg" allein wird aber nicht reichen, oder?
Natürlich nicht. Wir müssen vor allem den Hungertod beseitigen. Jährlich sterben auf der Erde 70 Millionen Menschen, davon 18 Millionen an Hunger - obwohl wir weltweit eine Landwirtschaft haben, die die Erdbevölkerung zweimal ernähren könnte. Dann geht die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auseinander. Die ärmere Hälfte der Menschheit hat in den letzten fünf Jahren 41 Prozent ihres Vermögens verloren, nämlich eine Billion US-Dollar. Die Klugen unter den Reichen wissen, dass sie etwas hergeben müssen. Wenn ihnen das gelingt, kann es auch eine Lösung der Probleme geben. Wenn sie egoistisch den Weg weitergehen, den sie bisher gegangen sind, können die Weltprobleme uns ersticken.
In Europa profitiert der Rechtspopulismus von der Situation. In Österreich ist die FPÖ in Umfragen stabil an erster Stelle, in Deutschland liegt die AfD bei 10 Prozent, Tendenz steigend. Ist der Aufstieg der Rechten überhaupt aufhaltbar?
Wir haben heute in Europa einen Trend nach rechts, auch in Deutschland. Das liegt natürlich auch an der großen Koalition. Da wachsen verschiedene Kleinparteien an, bis man nicht mehr an ihnen vorbeikann. Ob das klug ist, wage ich zu bezweifeln.
Was würden Sie denn empfehlen?
Eine Koalition aus SPD, der Linken und den Grünen. Dazu müssten die Akteure aber zueinander finden und kompromissfähig werden. Die Union müsste in Opposition gehen. Als Regierungspartei kommt sie nämlich von rechts unter Druck. Die AfD wird so immer stärker.
Wie in Österreich die FPÖ?
Ja, etwa so. Wenn sich die Linksparteien aus Gründen der ideologischen Reinheit sträuben, Verantwortung zu übernehmen, tragen sie eine Mitverantwortung am Aufstieg der Rechten. Osteuropa legt sich gegen die Flüchtlingspolitik von Berlin und Brüssel quer. Warum? Erstens ist die nationale Frage im Staatssozialismus immer heruntergespielt worden. Als Reaktion darauf lebt sie jetzt wieder auf. Zweitens sind diese Staaten ökonomisch schwächer als der Westen. Sie sehen nicht ein, warum sie Lasten übernehmen sollten. Die Flüchtlinge wollen ja auch in der Regel nicht nach Osteuropa, sondern nach Westeuropa. Und drittens hat die deutsche Regierung einen folgenschweren Fehler begangen: Anfang des Jahres haben Italien und Griechenland EU-Flüchtlingsquoten vorgeschlagen. Alle waren einverstanden, nur die Bundesregierung war dagegen. Nun kriegen wir die Rechnung dafür.
Sie kommen ja ursprünglich aus der SED. Was bedeutet für Sie eigentlich heute Kommunismus?
Ich würde den Begriff nicht verwenden. Wenn man darunter das versteht, was Stalin oder Mao Tse-Tung gemacht haben - mit so etwas habe ich nichts zu tun. Ich bin ein energischer Kämpfer gegen Diktaturen, auch wenn sie sich links nennen. Demokratischer Sozialismus ist für mich auch Mittelstand, sind für mich auch kleine Unternehmen. Wo das Privateigentum Innovation, Fortschritt, Preisdruck und Qualitätssteigerung bedeutet, ist es doch wertvoll und gut. Nur in der öffentlichen Daseinsvorsorge hat es nichts zu suchen. Ein Krankenhaus muss sich nicht in erster Linie rechnen. Ein Krankenhaus muss in erster Linie für Gesundheit sorgen. Wenn ich alles kommerzialisiere, ist das der falsche Weg. Ich möchte nicht, dass die Privatbanken entscheiden, was wir zu tun haben. Wir brauchen einen Primat der Politik.
Die Linke hat in Deutschland das Image einer Pro-Putin-Partei. In Frankreich hat das Le Pen, in Österreich die FPÖ. Stört Sie das nicht?
Doch, natürlich. Ich kritisiere auch Putin und halte ihn nicht wie Gerhard Schröder für einen "lupenreinen Demokraten". Trotzdem gibt es Frieden und Sicherheit in Europa nicht gegen, sondern nur mit Russland. Wir hätten uns niemals so in Stellung bringen lassen dürfen gegen Putin. Wir hätten immer den Ausgleich suchen müssen. Die USA wollen kein Bündnis Frankreich-Deutschland-Russland. Das fürchten sie, weil es ein Machtfaktor ist. Dieses Szenario zu verhindern, ist ihnen gelungen. Unsere Regierung hat artig auf die Amis gehört. Die Sanktionen ruinieren unseren Mittelstand. Es muss klar sein: Wir haben europäische Interessen gegenüber Russland, und die müssen wir auch gegenüber den USA artikulieren. Wir dürfen uns da nicht in eine falsche Politik hineintreiben lassen.
Zur Person:
Gregor Gysi ist mit Oskar Lafontaine Gründungsvater der Partei Die Linke, deren Bundestagsfraktion er 2005 bis 2015 leitete. Sein Bundestagsmandat behielt der 68-Jährige nach dem Führungswechsel. Zu den politischen Erfolgen des Ostberliners zählt unter anderem derFormationsprozess der SED zur PDS nach dem Mauerfall. In Wien war er anlässlich des Com.sult-Kongresses.