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Die protestierenden Massen beweisen: Es gibt auch das "andere Belarus"

Von Gerhard Lechner

Analysen

Jede Nation hat ihre Spezifika. Glaubt man den Weißrussen, dann zeichnet sie eine gewisse Gemächlichkeit im Ertragen widriger Umstände aus. Eine wegwerfende Handbewegung, ein "Aah!" sollen signalisieren: Das zahlt sich nicht aus. Diese Haltung, nicht gleich den Kopf zu riskieren, hat wohl schon über viele Stürme der Geschichte, die über das Land gezogen sind, hinweggeholfen.


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Es muss also einiges an Groll gegen das Regime des autoritär regierenden Präsidenten Alexander Lukaschenko zusammengekommen sein, dass sich an die 40.000 Weißrussen im Zentrum von Minsk versammelten, um gegen den ganz offensichtlich gefälschten Urnengang zu protestieren.

So abgegriffen das Wort vom "anderen Weißrussland" auch sein mag - es passt: Die Menschenmassen zogen mit der verbotenen weiß-rot-weißen Nationalflagge, die auf das Großfürstentum Litauen zurückgeht, über den Unabhängigkeitsprospekt, vom Oktoberplatz weg, der an Lenins Revolution erinnert, kreuzten Engels- und Leninstraße, passierten das KGB-Gebäude (der Staatssicherheitsdienst heißt in Weißrussland noch so) und die Büste des Gründers der Sowjet-Geheimpolizei, Feliks Dzierzynski, und erreichten schließlich die Lenin-Statue vor der Zentralen Wahlkommission.

Weißrussland, Belarus, ist zutiefst gespalten: Dass es über weite Strecken einem - modernisierten und adrett herausgeputzten - Sowjet-Museum gleicht, hat seine Gründe. Das Land, dessen nationale Identität nur schwach entwickelt ist, dessen Sprache sich mehr schlecht als recht neben dem Russischen behauptet, zählte in der UdSSR zu den fortschrittlichsten Republiken und hat von daher bis heute eine solide industrielle Basis. Die gute Ausstattung war auch gezielte Belohnung für die harte Zeit davor: Die schier unglaublichen Leiden des Zweiten Weltkriegs, als verschiedene Partisanengruppen gegen die Deutschen kämpften, einander aber auch gegenseitig abschlachteten, sind ins Gedächtnis eingebrannt: "Wir haben keinen Krieg. Siehst du diese Straßen? Uns gehts gut", bekommt man von Anhängern des Präsidenten zu hören.

Partisanen, Traktoren und belarussische Volksmusik-Festivals erreichen aber immer weniger der jungen Weißrussen, für die ihr Präsident, der bevorzugt nach Venezuela und in den Iran reist, als sich an der EU zu orientieren, eine gröbere Peinlichkeit darstellt. Sie möchten sich auch von den Fesseln einer überkommenen Staatswirtschaft lösen, des "Modells Weißrussland", das zu bewerben Lukaschenko nicht müde wird: Die Kluft zwischen Arm und Reich ist relativ gering - die Möglichkeiten für Unternehmer sind es freilich auch. Viele der wichtigen Fachkräfte wandern aus.

Vor allem aber möchten viele Weißrussen endlich eines: freie Wahlen und Medien. Sie hätten alle Voraussetzungen für einen Wandel. Wenn man sie ließe.