Orange Ex-Revolutionäre gegen Janukowitsch-Lager. | Gegenseitige Manipulationsvorwürfe schon vor der Wahl. | Umfragen zeigen Kopf-an-Kopf-Rennen. | Kiew. Vor den ukrainischen Parlamentswahlen am Sonntag wird einmal mehr klar: In der Ukraine wird Politik auf der Straße gemacht. Egal, ob Wahlen oder wichtige Entscheidungen des Obersten Gerichtshofs - schon vor dem eigentlichen Ereignis stellen Demonstranten am Platz der Unabhängigkeit in Kiew Zelte auf, campieren dort und warnen wortgewaltig vor Betrug, Wahlfälschung oder gleich vor der Gefahr eines Staatsstreichs. Vor dem Urnengang haben die Rolle der Warner die Anhänger der in Umfragen führenden Russland-nahen Partei der Regionen von Premier Wiktor Janukowitsch übernommen. Sie behaupten, die "Orangen", also die prowestlich ausgerichtete Präsidentenpartei Unsere Ukraine und der Block Julia Timoschenko, würden die Wahlen manipulieren.
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"Mit massiven Fälschungen werden die Orangen versuchen, das Ruder herumzureißen und zu gewinnen", sagt der Abgeordnete der Partei der Regionen, Wasilij Kiselow, und weist darauf hin, dass es in den orange dominierten Regionen offenbar ein "demografisches Wunder" gegeben habe. Obwohl die Geburtenrate dort seit Jahren stagniere, seien etwa im Bezirk Lemberg plötzlich um 20 Prozent mehr Bürger wahlberechtigt als bei den letzten Wahlen. Kiselow ortet dahinter manipulierte Wählerverzeichnisse, die den Orangen zugute kommen würden.
Letztere konterten mit einem sehr ähnlichen Vorwurf. Sie sagen, in der Ost-Ukraine, der traditionellen Hochburg der Partei der Regionen, würden in den Wählerverzeichnissen unzählige Menschen auftauchen, die über hundert Jahre alt sind. Allein in der Stadt Charkow sollen es mehr als 2000 sein. In einem Land, in dem das statistische Sterbealter von Männern bei 60, von Frauen bei 71 Jahren liegt, könne es sich dabei eigentlich nur um sogenannte "tote Seelen" handeln, deren fiktive Stimmen durch Betrug der Partei der Regionen zugeschlagen werden.
Ungustiös, aber unvermeidlich findet derartiges Vorwahlgerangel der Ex-Dissident, Universitätsprofessor und langjährige Chef von Amnesty International in der Ukraine, Miroslav Marinowitsch: "Es wird noch einige Wahlen brauchen, bis die Ukraine eine neuen politische Kultur entwickelt. Wir sind im Moment immer noch dabei, die Demokratie zu lernen, und das ist ebenso schmerzhaft wie unappetitlich."
Dass sich die Ukraine knapp drei Jahre nach der orangen Revolution von 2004 politisch nur wenig weiterentwickelt hat, zeigen auch die letzten vor den Wahlen durchgeführten Meinungsumfragen.
Immer noch bestimmen die Akteure von 2004 das Geschehen, immer noch verlaufen tiefe Gräben zwischen der laut Umfragen mit 34,7 Prozent vorne liegenden Partei der Regionen und den beiden orangen Parteien, dem Block Julia Timoschenko (25,7 Prozent), und Unsere Ukraine (11,9 Prozent).
Zähes Ringen nach der Wahl erwartet
Schon jetzt ist klar, dass bei dieser Kräfteverteilung wie nach den vergangenen Wahlen ein zähes, möglicherweise mehrwöchiges Ringen um eine arbeitsfähige Koalition folgen wird. Ob die dann gezimmerte Koalition langen Bestand haben wird, ist angesichts der persönlichen Animositäten zwischen Präsident Juschtschenko, Premier Janukowitsch und Julia Timoschenko mehr als fraglich. Sollte sich das orange Lager auf eine Koalition einigen, dürfte sie jedenfalls Regierungschefin werden.
Aufpoliertes Image
des Ex-Apparatschiks
Dass Janukowitsch trotz seiner einstigen Niederlage gegen die orange Revolution und trotz seiner eher mäßigen Performance als Regierungschef inzwischen dennoch unangefochten vorne liegt, hat mehrere Gründe: Zum einen die nach wie vor ungebrochene Unterstützung im Osten des Landes, zum anderen aber auch sein völlig geändertes Auftreten. Seit Janukowitsch seine russischen Berater zum Teufel gejagt hat und die Dienste einer US-amerikanischen PR-Agentur in Anspruch nimmt, hat er es geschafft, das Image des finsteren Apparatschiks loszuwerden. Er gibt sich inzwischen als Showman, der immer nur positive Aussagen formuliert, zur richtigen Zeit dem Publikum zuwinkt und stets lächelt.
Weil seine orangen Gegner auf die von ihm vorgegebene Strategie, im Wahlkampf möglichst viele, unfinanzierbare Versprechen zu machen, voll eingestiegen sind, verwischen sich außerdem immer mehr die programmatischen Unterschiede zwischen den Parteien. Alle übertreffen sich wider besseres Wissen in vollmundigen Versprechungen einer Ukraine, in der Milch und Honig fließen werden. Dass laut Expertenschätzungen die Einlösung der im Wahlkampf gemachten Versprechen die Ukraine in ein finanzielles Desaster stürzen würde, stört sie dabei wenig.
Und so bleibt als einer der wenigen leicht wahrnehmbaren Unterschiede zwischen Janukowitsch und seinen orangen Herausforderern die Haltung zu einer Nato-Integration der Ukraine. Janukowitsch lehnt sie strikt ab, Unsere Ukraine und der Block Julia Timoschenko sind, wenn auch mit unterschiedlicher Begeisterung, dafür.
Schon was den Beitritt zur EU betrifft, verwischen sich die Unterschiede aber wieder: Alle Parteien sprechen sich für eine "europäische Perspektive" der Ukraine aus. Die dürfte allerdings erst einmal daran scheitern, dass die Union eine Aufnahme der Ukraine vorläufig nicht auf ihrer Agenda hat.
Siehe
Gespaltenes Verhältnis zu Russland
+++ Abgekühlte Achse Kiew-Brüssel