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Die Prothese mit Tastsinn

Von Roland Knauer

Wissen
Künftig könnte der Mensch spüren, welche Oberfläche seine künstlichen Finger ertasten.
© © © Mark Thiessen/National Geogra

Schnittstelle leitet die Kommandos des Gehirns direkt an die künstliche Gliedmaße weiter. | Prothese funktioniert wie verlorene Hand und könnte Sinneseindrücke „wahrnehmen”.


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Berlin. Die Zeiten, in denen Captain Ahab im Roman „Moby Dick” das fehlende Bein durch einen unbeweglichen Holzknüppel ersetzt bekam, sind längst vorbei. Seit dem 19. Jahrhundert hat sich die Prothesentechnik so erheblich verbessert, dass die Rekorde bei den Paralympics im Laufen jenen der herkömmlichen Olympischen Spiele nahe kommen.

Perfekt sind künstliche Gliedmaßen aber noch lange nicht. Das liegt weniger an der Technik als an der komplexen Vollkommenheit der menschlichen Gliedmaßen, die jede noch so minimale Bewegung ausführen können, zu der das Gehirn Kommandos gibt. Wissenschafter machen es sich daher zum Ziel, dass möglichst viele Funktionen des Körpers zum Einsatz kommen. Etwa geht Todd Kuiken von der North Western University in Chicago, Illinois, diesen Weg. Ausgangspunkt sind die Nerven, die vor einer Amputation die Muskelfunktion steuerten - beispielsweise eines fehlenden Armes.

Nach der Operation laufen diese Nervensignale zwar ins Leere, die Nerven selbst aber funktionieren noch normal. Die Chirurgen leiten sie zu den Brustmuskeln um, an denen sie auch anwachsen. Will der Patient jetzt in Gedanken die Faust ballen oder ein Glas umfassen, regen die umgeleiteten Nerven bestimmte Muskeln in seiner Brust an.

Bei Muskelbewegungen entstehen stets auch elektrische Felder. Auf der Haut aufgeklebte Elektroden können sie messen und damit die Bewegungen registrieren. Ein Computer interpretiert die Signale, leitet sie über Kabel in die Armprothese und steuert dort Motoren, die die künstlichen Gelenke bewegen. Der Rest ist Training - etwa können Patienten selbst nach dem Verlust beider Hände nach einer Weile wieder selbständig essen. Perfekt funktionierte es allerdings noch nicht.

Forscher des Fraunhofer-Instituts für Zuverlässigkeit und Mikrointegration (IZM) in Berlin arbeiten daher an einem „Interface” (Schnittstelle), das das menschliche Gehirn mit der Prothese verbindet. Das Interface ist im Prinzip eine dünne Schicht Elektronik auf einer haarfeinen Platte von 6,8 mal 7,5 Millimeter Fläche. Aus diesem „neuronalen Array” (Schaltmatrix) ragen nach unten hundert feine, spitze Nadeln, die in die obersten Schichten des Gehirns eindringen können, ohne dabei Schmerzen zu verursachen. Die Steuerung der Schnittstelle erfolgt drahtlos, „da eine Verkabelung das Infektionsrisiko erhöhen würde”, erklärt der Physiker Erik Jung vom IZM.

Die hundert feinen Nadeln an der Unterseite werden im Zuge einer Operation in eine bestimmte Gehirn-Region gedrückt, die die Bewegungen der Gliedmaßen steuert - der „motorische Cortex”. Sendet nun eine Nervenzelle ein Signal in Form eines elektrischen Impulses, können die Nadelspitzen diesen Stromfluss aufnehmen.

Lernfähiger künstlicher Arm

Der Rest ist eine ausgeklügelte Mikroelektronik. Die Spitzen leiten das Signal an einen winzigen Chip. Dieser verstärkt es und filtert störendes Rauschen heraus. Ganz oben auf dem winzigen Bauteil gibt es dann eine Antenne, die das Signal nach außen sendet, wodurch in weiterer Folge die Prothese die Bewegung ausführt.

„Die Methode kann allerdings frühestens in einem Jahrzehnt eingesetzt werden”, so Jung. Denn noch fallen immer wieder Signale von einzelnen Nadeln aus. Dann sei möglicherweise die Nervenleitung für dieses Signal abgestorben, was im Gehirn immer wieder passiert - eine andere Nervenzelle ersetzt bald die Funktion.

Wenn der erste Patient über einen Array seine Prothese steuern kann, wird er sich zum Beispiel vorstellen, dass er seine Hand zur Faust ballt. Das entstehende Nervensignal wird zu einer Software geleitet, die nach einigen Malen Faust ballen lernt, welches Signal dabei jedes Mal durch die Nervenbahnen saust und den Befehl in einer „Sprache” weitergibt, die der Elektronik in der Prothese geläufig ist. Langsam lernt der Mensch, die Prothese wie eine verlorene Hand zu benutzen.

Das Interface könnte nicht nur in das Gehirn oder in das Gewebe des Stumpfes einer Gliedmaße eingebaut werden, sondern auch umgekehrt: Sensoren in der Prothese können Signale auch an das Nervengewebe im Gehirn weitergeben. Mit Hilfe des Arrays könnten Prothesen also auch Sinneseindrücke an das Gehirn liefern. Dann spürt der Mensch, welche Oberfläche die Finger seines künstlichen Arms ertasten.