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Die quälende Frage nach dem Warum

Von David Ignatius

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Der Autor war Chefredakteur der "International Herald Tribune". Seine Kolumne erscheint auch in der "Washington Post".

Nach Katastrophen wie dem Erdbeben in Haiti suchen die Menschen nach Erklärungen. Da ist dann mitunter auch vom Wirken Gottes die Rede, als Strafe für die Sünden der Betroffenen.


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Wenn derart überwältigende Naturkatastrophen wie das Beben von Haiti so erschreckend viele Todesopfer fordern, kann die Frage nach dem Sinn nicht ausbleiben: Die Menschen wollen verstehen, warum so etwas passiert, über alle geologischen Erklärungen hinaus. Ein extremes Beispiel dieser Sehnsucht, alles erklären zu wollen, lieferte in den USA eine Wortmeldung von Reverend Pat Robertson: Haiti sei "von Gott verdammt", weil die Haitianer seit 200 Jahren durch ihre Voodoo-Riten "einen Pakt mit dem Teufel" hätten.

Aber auch an weltlichen Versionen, die Katastrophe erklären zu wollen, fehlt es nicht. Beim Anblick der Zerstörung gaben manche Beobachter Haitis Klassensystem die Schuld, andere der rauen internationalen Kreditvergabepolitik gegenüber Haitis chronischer Armut. Wieder andere stellten die haitianische Kultur an den Pranger: "Manche Kulturen sind fortschrittsresistenter als andere. Und eine entsetzliche Tragödie wurde soeben durch eine solche Kultur noch verschlimmert", schrieb David Brooks in der "New York Times".

Ein Körnchen Wahrheit steckt wohl in all diesen Erklärungsversuchen. Sie alle sparen aber den schmerzlichsten und bestürzendsten Faktor aus, auf den man immer stößt, wenn Schreckliches passiert: Pech. Vor dem gleichen Problem stehen wir, wenn Nahestehenden Schlimmes zustößt. Wieso geschieht dem einen etwas, seinem Nachbarn mit den gleichen Risikofaktoren aber nicht? Die Antwort wird wohl meist lauten müssen: Es ist eben so.

Als wir über die Erdbebenkatastrophe in Haiti sprachen, empfahl mir mein Freund Garrett Epps, Professor für Verfassungsrecht an der Universität von Baltimore, das Buch "Evil in Modern Thought" der Philosophin Susan Neiman, das von jenem Erdbeben, das 1755 Lissabon zerstörte und mindestens 15.000 Menschen tötete, ausgeht. Dieses Erdbeben war so schrecklich, dass es ganz Europa traumatisierte. Es dauerte nur zehn Minuten, löste aber Brände aus, die alles verwüsteten, gefolgt von einer Serie von Flutwellen. Viele sahen auch damals in der Katastrophe Gottes Wirken als Strafe für Vergehen der Menschen.

Aber warum gerade Lissabon? "Orthodoxe Theologen begrüßten das Beben recht unverhohlen", so Neiman: "Schon lange kämpften sie gegen den Deismus und die Naturreligionen." Eifrig wurde debattiert, welche Sünden so viel von Gottes Zorn auf sich gezogen haben könnten. Einige sahen das Beben als Strafe für Portugals Plündertouren in der Neuen Welt.

Auch Philosophen haben immer schon versucht, Antworten auf die Frage, warum Katastrophen passieren, zu finden. Immanuel Kant zum Beispiel schrieb drei Essays über Erdbeben für eine Wochenzeitung in Königsberg. In Preußen gibt es keine Erdbeben, so sein Hauptargument, und das lasse sich ganz ohne das explizite Einwirken Gottes erklären. Rousseau und Voltaire debattierten darüber, ob man solch einschneidende Ereignisse überhaupt jemals verstehen könne.

Der wahre Held von Lissabon war der Marquis von Pombal, der als Premierminister unter König Joseph I. die Hilfe leitete. Die quälende Diskussion konnte er dabei nicht brauchen. "Was soll das? Wir begraben die Toten und versorgen die Überlebenden", sagte er. Und er konzentrierte alles darauf, die Toten rasch zu beerdigen, genügend Getreide für die Hungernden aufzutreiben, für Ordnung und Sicherheit zu sorgen, Plünderungen zu verhindern. Ein Jahr später war die Stadt wiederhergestellt.

Erdbeben sind nicht "böse", denn Böses setzt eine Absicht voraus. Die Antwort auf unerklärliche Ereignisse sollte nicht aus Diskussionen bestehen, sondern aus Aktionen.

Übersetzung: Redaktion