Bei der Schlacht um Gehen oder Bleiben war schlaues Marketing gefragt - Brexit-Befürworter Boris Johnson behalf sich ausgerechnet mit Wagner-Musik.
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London. "Markieren Sie nur ein Feld mit einem X", heißt es am Donnerstag für mehr als 46,5 Millionen Wahlberechtigte in ganz Großbritannien, zehntausende Briten mit Wohnsitz auf Gibraltar, auf Malta und Zypern eingerechnet. Die Wahllokale in über 300 Stimmbezirken haben bis 22 Uhr Ortszeit (23 Uhr MEZ) offen. Wer sich bis dahin in die Warteschlange eingereiht, ist dabei.
Donnerstag Früh, es ist ein normaler Arbeitstag, ganz London ist auf den Beinen. Eine Frau verteilt vor dem Bahnhof St. Pancras Sticker mit der Aufschrift "I’am in". Wer sich das Bekenntnis an die Jacke heftet, wird von Passanten wohlwollend oder skeptisch gemustert - je nachdem. Die Aktivistin jedenfalls ist fest davon überzeugt, dass ihre Sache obsiegen wird. "Oktopus Otto, der schon mehrere EM-Ergebnisse richig vorhergesagt, meint, dass das In-Lager vorne ist", scherzt sie. In der Tat hatte sich Otto, zum Referendum befragt, auf den Ziegel mit der Europaflagge gesetzt, nicht auf jenen mit dem Union Jack. Die Betreiber von Ottos Habitat, die Manchester Sea World, schlachten ihre neu gefundene Publicity ordentlich aus: Kinder hatten am Tag der Entscheidung freien Eintritt.
Für andere Menschen geht es freilich um mehr als um Publicity-Gags. Zurück in London: Ein vorbeieilender Wähler mit ägyptischen Wurzeln ist ebenfalls für "In": "Wenn ich etwas verändern will, muss ich dabei sein", sagt er. "Es ist wie mit dem Laden hier in London, der meinem Bruder gehört. Wenn ich da was verändern will, muss ich konstruktiv mitarbeiten."
Die Wähler stapften durch regennasse Straßen zur Urne. In der Nacht auf Donnerstag waren London und der Südwesten des Landes von sintflutartigen Schauern heimgesucht worden, die Feuerwehr rückte mehr als 300 Mal aus. Der Londoner Frühverkehr stand zeitweise still, die Metro-Stationen Embankment, Tooting Broadway, Lamberth North, Borough und Canning Town mussten geschlossen werden. Zu einigen Wahllokalen mussten die Londoner regelrecht waten. Doch auch diese Widrigkeiten sollten das Wahlergebnis nicht entscheidend beeinflussen.
Die Frist zur Wähler-Registrierung war schon Tage zuvor wegen des großen Andrangs verlängert worden. Das gab für viele Briten Anlass zu Spekulationen: Das Referendum sei eine geschobene Sache, mutmaßten hier viele. Dass das Gesamtergebnis angefochten wird, gilt dennoch als unwahrscheinlich.
Die Anführer der verschiedenen Lager waren am Donnerstag ebenfalls früh auf den Beinen: Premier David Cameron, der bis zuletzt für einen EU-Verbleib warb, machte sich bereits vor 9 Uhr gemeinsam mit seiner Frau Samantha von seiner schwer bewachten Residenz in der Downing Street auf den Weg zum Wahllokal. Jeremy Corbyn, Chef der Labour Party und ebenfalls Proponent des EU-Lagers, wählte im Londoner Stadtteil Islington. EU-Gegner und Ukip-Chef Nigel Farage war wie immer bei bester Laune: Die Unentschlossenen und die, die nur leichte Anti-EU-Präferenzen hätten, würden die Wahl entscheiden, meinte er. Die schottische Regierungschefin Nicola Sturgeon - sie ist ebenfalls für einen Verbleib in der EU - warf ihren Zettel in der Broomhouse Community Hall in Glasgow ein.
Plattform für Kampagnen am Tag der Abstimmung waren vor allem die Tabloids. Die "Sun" etwa zitierte einmal mehr angebliche Privatgespräche von Queen Elizabeth, in denen sie von ihrem Gegenüber "drei gute Gründe" dafür wissen wollte, warum Großbritannien in der EU bleiben sollte. "Wir können ihr dabei leider auch nicht helfen", ätzt die "Sun", die massiv Stimmung für einen Austritt macht. Auch wenige Stunden vor Wahlschluss galt es, 5 Millionen Unentschlossene zu überzeugen. Und dem Anführer des Brexit-Camps, Londons Ex-Bürgermeister Boris Johnson, der stets mit blonder Strubbelfrisur auftritt, wird unter dem Motto "Lass den Löwen brüllen" in der "Sun" viel Platz eingeräumt. Johnson ließ sich übrigens kurz davor bei einem Helikopterflug über London filmen. Seine Musikauswahl nahm er persönlich vor: Wagners Walkürenritt.