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Die Quellen der Freude

Von Christian Hoffmann

Reflexionen
© fotolia

Mit der Lebensfreude hat sich vor etwa zweitausend Jahren der griechische Philosoph Epikur befasst. Obwohl oft missverstanden und verfälscht haben seine Thesen auch nach so langer Zeit nichts an Bedeutung verloren.


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Im Jahr 306 vor Christus traf ein Mann von 36 Jahren in Athen ein. Er nannte sich Epikur, war Athener Bürger, hatte aber in der griechischen Kolonie in Lampsakos gelebt, einem Platz am Marmaris-Meer, an dem sich heute die türkische Stadt Lapseki befindet. In Athen, der Hauptstadt des geistigen Lebens jener Zeit, wollte sich der junge Mann mit einer Philosophen-Schule etablieren.

Epikur hatte damals bereits einige Schüler um sich geschart und mit seinem Unterricht immerhin bereits die Summe von 80 Minen verdient, mit der er ein Grundstück mit großem Garten kaufen konnte. In späteren Jahren, als sein Name in Athen bereits ein fest eingeführter Begriff war, wurde die Schule des Epikur oftmals auch Kepos, "der Garten", genannt.

In der Stadt gab es zu jener Zeit eine ganze Reihe solcher Schulen. Wer etwas auf sich hielt, musste sich dort rhetorische, philosophische und juristische Kenntnisse angeeignet haben. Und kurz vor Epikurs Eintreffen - fast 100 Jahre nach der Hinrichtung des unbequemen Philosophen Sokrates - war ein Gesetz aufgehoben worden, das die Neugründung einer Schule von einer staatlichen Genehmigung abhängig gemacht hatte. Also konnte es der Neuling wagen, sich der Konkurrenz zu stellen.

"Der Garten" war natürlich mehr als ein Spitzname für eine neue Philosophenschule. Epikur verkörperte mit vielen anderen seiner Generation einen Umbruch im Lebensstil und im Denken. Die großen Zeiten Athens waren längst vergangen. Die Eroberung der Stadt im Jahr 404, die die Niederlage im Peloponnesischen Krieg besiegelte und den Verfall der militärischen Macht einleitete, lag bereits hundert Jahre zurück.

Dieser Hintergrund ist wichtig, um zu verstehen, was im Garten des Epikur geschah. Mit der Idee vom Garten verband sich vor allem eine Haltung von Zurückgezogenheit, der gezielten Abwendung von den öffentlichen Plätzen der Stadt, von den Redeschlachten in der Volksversammlung, die die große Zeit Athens geprägt hatten. Epikur besprach mit den Schülern ganz andere Fragen, die vor allem um ein Thema kreisten: Wie kann der Einzelne zur Glückseligkeit gelangen? Was ist das, ein gelungenes Leben?

Das klare Denken. Die Antworten, die Epikur den in seinem Garten Versammelten darlegte, bilden bis in die Gegenwart die Grundlage des Individualismus europäischer Prägung. Neben dem körperlichen Wohlbefinden, der Freiheit von Schmerz, sieht er vor allem in der Seelenruhe die Grundlage des Lebensglücks. Für diese Seelenruhe verwendet der mit Meer vertraute Grieche ein einprägsames Bild: Ataraxie, Meeresstille des Gemütes, das Gegenteil zu dem Zustand, in dem ein Sturm die Wellen aufpeitscht.

Es ist eines der seltsamen Missverständnisse der Geschichte, dass der Name Epikur heutzutage mit Delikatessen und raffinierten erotischen Genüssen in Verbindung gebracht wird. Denn der alte Grieche wusste genau, dass die körperlichen Lüste dem Lebensglück nur in eingeschränktem Maße förderlich sind. In einem Brief an seinen Schüler Menoikeus betont er, dass "nicht eine endlose Reihe von Trinkgelagen und Festschmäusen, nicht das Genießen schöner Knaben und Frauen, auch nicht ein Genuss von leckeren Fischen und was ein reichbesetzter Tisch sonst zu bieten vermag, ein freudevolles Leben schafft."

Was der Philosophie des Epikur ihren Glanz gibt, was sie von allen möglichen Mystikern und Fanatikern unterscheidet, was sie nach so vielen Jahrhunderten immer noch frisch erscheinen lässt, das ist sein unerschütterliches Vertrauen in die Vernunft. An derselben Briefstelle belehrt er Menoikeus darüber, dass die Grundlage des "freudevollen Lebens" allein "das klare Denken ist, das allem Verlangen und allem Meiden auf den Grund geht und den Wahn vertreibt, der wie ein Wirbelsturm die Seele erschüttert".

Aus dem Vertrauen auf "das klare Denken" ergibt sich auch, dass Epikur nichts ferner lag als die strenge Askese, die zu seiner Zeit durchaus populär war, zum Beispiel bei den Kynikern, und später, mit dem Christentum, in rabiater Weise zu einem Lebensideal stilisiert wurde. Es hat nichts mit Ablehnung der verschiedenen sinnlichen Lüste, die das Leben zu bieten hat, zu tun, wenn er ein einfaches Leben empfiehlt. Gegenüber Menoikeus erklärt er: "Auch die Selbstgenügsamkeit halten wir für ein großes Gut, doch nicht, damit wir uns unter allen Umständen am wenigen genügen lassen, sondern damit wir mit wenigem zufrieden sind, wenn wir nicht viel haben. Dabei leitet uns die Überzeugung, dass der einen reichen Aufwand am stärksten genießt, der seiner am wenigsten bedarf."

Lob der Freundschaft. Bei der Glückseligkeit geht es also gar nicht so sehr um die Entscheidung zwischen Konsum oder Enthaltsamkeit. Der gefährlichste Feind der Seelenruhe, so Epikur, ist die Furcht. Die Furcht lauert überall im Leben der Menschen: Furcht vor der Zukunft, Furcht vor den Göttern, Furcht vor dem Tod, und ihre Überwindung ist eines der wichtigsten Ziele des Philosophierens. Der Tod, schreibt Epikur zum Beispiel in dem erwähnten Brief, ist "ein Nichts. So lange wir da sind, ist er nicht da, und wenn er da ist, sind wir nicht mehr."

In einem der unzähligen Aphorismen, die aus dem Garten des Epikur überliefert sind, empfiehlt der Meister seinen Schülern ganz allgemein, sich mit den Dingen näher zu befassen, die ihnen Furcht bereiten: "Der überwindet die Unsicherheit gegenüber seiner Umwelt am besten, der sich so weit als möglich mit ihr vertraut macht und, wo dies unmöglich ist, dafür sorgt, dass sie ihm nicht fremd ist. Mit allem aber, bei dem ihm nicht einmal dies gelingt, lässt er sich gar nicht ein und stützt sich nur auf das, was ihm hilft, sicher zu werden."

Nun könnte der Eindruck entstehen, dass Epikurs Philosophieren auf nichts anderes hinausläuft, bequemen Egoisten eine Rechtfertigung für ihren Lebensstil zu liefern, und von seinen Vorvätern unterscheidet sich der Meister des Gartens tatsächlich in dem Punkt, dass er allgemein verbindliche moralische Maßstäbe nicht mehr anerkennt. Auch diese Frage behandelt er nicht aus der Sicht idealer Prinzipien sondern unter dem Blickwinkel der privaten Glückseligkeit; und da er das Leben kennt, weiß er, dass die Menschen nicht existieren können ohne "die Übereinkunft, einander nicht zu schädigen noch voneinander Schaden zu leiden". Wer gegen diese einfache Formel verstößt, schädigt nicht nur die anderen sondern auch sich selbst. Niemand kann dauerhaft im Zwist mit den Mitmenschen zur Seelenruhe finden. "Ungerechtigkeit ist an sich kein Übel. Vielmehr besteht das Übel nur in der argwöhnischen Besorgnis, ob die Tat wohl dem dafür bestellten Richter verborgen bleiben wird."

Trotz dieses Pragmatismus in Sachen Moral liegt Epikur nichts ferner als ein egoistischer Lebensstil. Er sieht vielmehr die Grundlage eines geglückten Lebens in der Freundschaft, obwohl er auch an diese Frage mit der für ihn typischen Nüchternheit herangeht: "Jede Freundschaft, so sehr sie auch an sich erstrebenswert sein mag, ist zuletzt doch auf den Nutzen gegründet."

Außer der Freundschaft hielten wenig andere zwischenmenschliche Beziehungen den kritischen Debatten im Garten des Epikur stand. Macht, Erfolg und Reichtum werden mit zwiespältigen Gefühlen betrachtet, die zu einem Hauptlehrsatz führen, der für die Philosophie des Gartens typisch geworden ist: "Wenn die Sicherheit vor den Menschen sich auch durch Macht stützen und durch Reichtum befestigen lässt, echter ist doch die, welche das Leben in der Stille und die Zurückgezogenheit vor der Masse verleihen."

Literatur

Epikur: Philosophie der Freude. Eine Auswahl aus seinen Schriften, übersetzt von Johannes Mewaldt. Alfred Kröner Verlag, Stuttgart 1973.

Malte Hossenfelder: Epikur. Verlag Beck, München 1998.

Josef Werle: Epikur für Zeitgenossen. Ein Lesebuch zur Philosophie des Glücks. Verlag Goldmann, München 2002.