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Analyse: Die Terrormiliz "Islamischer Staat" ist geschwächt und setzt auf neue Strategien.
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Mossul/Wien. Die Terrormiliz "Islamischer Staat" (Daesh) befindet sich in ihrer schwersten Krise. Abu Bakr al-Baghdadi, der selbsternannte Kalif und Chef der sunnitischen Organisation, holt angesichts massiver Gebietsverluste zum Rundumschlag aus: Noch brutaler und noch ausgiebiger sollen künftige Anschläge auf den Westen werden, fordert er von seinen Anhängern.
Es soll "das Blut der Ungläubigen fließen, und zwar in Mengen", "Bereiten wir ihnen blutige Weihnachten", heißt es in Tweets, die der Terrororganisation zugeschrieben werden. Es schwingt jede Menge Verzweiflung in den jüngsten Hassbotschaften der IS-Propagandamaschinerie mit. Fast scheint es, als ob es der letzte Versuch ist, mit dem Strategiewechsel ein Lebenssignal zu geben. Völlig besiegen wird man das Terrornetzwerk aber sofort nicht können, auch wenn das Kernland, also Syrien und der Irak, zurückerobert werden. Europäische Nachrichtendienste gehen davon aus, dass Daeshs Rückschläge in Syrien und im Irak zu Anschlagsserien im Westen führen werden, um damit größtmögliche Panik zu erzielen.
Besonders hingewiesen wird auf Studien, wonach zwischen elf und 25 Prozent der zurückgekehrten Auslandskämpfer später zu Terroristen geworden seien.
Die Angst vor IS-Rückkehrern ist auch in Westeuropa, etwa in Frankreich, Belgien und Deutschland groß. Denn diese Kämpfer sehen sich als das "Vermächtnis" des IS. Viele von ihnen würden bewusst dorthin zurückgehen, von wo aus sie aufgebrochen waren. Ihr Motto lautet: "Wenn es im IS-Gebiet nicht geklappt hat, dann muss es zumindest woanders klappen." Unter den künftigen IS- Rückkehrern seien zahlreiche als "Fälle für den Psychiater" einzustufende Fanatiker, zitiert etwa das "Hamburger Abendblatt" den Direktor des französischen Inlandgeheimdienstes DGSI, Patrick Calvar. Die schlachterprobten Kämpfer seien zu "wahren Killern" geworden. In vielen europäischen Ländern wird laut über eine strengere Gesetzgebung nachgedacht. Demnächst soll es leichter möglich sein, die präventive Beugehaft zu verhängen. Unbegründet ist das nicht. Die Anschläge der vergangenen Monate haben gezeigt, dass der IS insbesondere in Europa gut organisiert ist. Alle Taten werden minutiös über islamische Konvertiten, die als Mittelsmänner fungieren, verdeckte IS-Agenten und Selbstmordattentäter, die gezielt rekrutiert werden, geplant.
Rückkehrer als Schläfer
Arabische Experten wiederum glauben, dass viele IS-Kämpfer sich auch in der Türkei und in den Golfstaaten niederlassen und dort jeder Zeit einen Anschlag verüben könnten. "Sie werden sich vielleicht als Schläfer still und unauffällig verhalten, ein geordnetes Leben führen und dann unerwartet zuschlagen", heißt es in einem Bericht der "Middle East Studies". Nachsatz: Es werden keine Einzeltaten sein.
Trotz der eifrigen Parolen al-Baghdadis zeichnet sich aber eines klar ab: Der IS hat Personalprobleme. Nach der Tötung von insgesamt vier hochrangigen IS-Kommandanten in den vergangenen neun Wochen ist das Eis für al-Baghdadi dünn geworden. Zwei von sieben Personen, denen al-Baghdadi blind vertrauen soll, sind unter den Ermordeten. Schmerzlich für die Miliz sind auch das Fehlen der als "Sprachrohr und Marketinggenies" der Organisation bekannten Informations- und Propagandachefs Wa’il Adil Hasan Salman al-Fayad und Abu Mohammed al-Adnani. Die Ersatzmänner sind nicht so gut vernetzt. In irakischen Medien kursieren seit Tagen auch Gerüchte, wonach IS-Chef Baghdadi selbst nach einer Lebensmittelvergiftung ebenfalls mit gesundheitlichen Problemen zu kämpfen habe. Der IS-Chef selbst hält sich an einem geheimen Ort in der Nähe von Mosul auf. Die derzeit umkämpfte Stadt gilt als letzte Bastion der Terror-Miliz im Irak.
Neben den personellen und geografischen Verlusten bleiben militärische Erfolge für den IS aus. Die Moral der Kämpfer soll wegen andauernder Niederlagen am Tiefpunkt sein. Für die Führungszentrale des IS ist diese Abwanderung von Kämpfern mittlerweile zu einem ernsthaften Problem geworden. Und warum wenden sich immer mehr Kämpfer ab? Ein rigoroses Sparpaket, fehlende Erfolge und Interessenskonflikte. Und die Massenexekutionen gegen das eigene Personal kommen auch nicht gut an. Gewonnen ist der Krieg gegen den IS aber noch lange nicht, denn dazu ist er zu vielschichtig. Die Rückeroberung der IS-Territorien sind ein erster Schritt in einem langwierigen Prozess.