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Die Rache setzt sich über das Recht hinweg

Von Haimo L. Handl

Gastkommentare
Haimo L. Handl ist Politik- und Kommunikationswissenschafter.

Die Jubelmeldungen über den Tod Muammar Gaddafis zeigten den Hass, den atavistisch fundierten Untergrund barbarischer Inhumanität ungeschminkt.


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Unrecht als Recht, Mord als Heldentat, böse, primitive Freude als Freiheitserfolg. Pervers, diese Umkehrung der Werte, auch durch westliche Medien, die in Blutbildern schwelgen. Archaische, dunkle, böse, barbarische Unmenschlichkeit. Was ist von solchen Leuten zu erwarten? Nur Negatives. Heute grölen, heulen und schreien sie so, morgen anders. Aber sie wüten. Einmal als Opfer, einmal als Täter, die sich nicht nur keiner Schuld bewusst sind, sondern sich als Rechtschaffene verstehen. Die Vernunft ist ausgesetzt. Die bedenkenlose Tat triumphiert. Und die Helfershelfer machen Geschäfte.

Dieser Bodensatz von Niedrigkeit ist nicht auf die islamische Welt beschränkt. Die USA, Leitmacht des Westens und selbsternannte Weltpolizei, zeigen längst, wie dehn- und biegbar "westliche" Rechtsauffassungen und Grundsätze sind: Sie foltern im In- und Ausland. Sie verüben Terrorakte, wie zuletzt die Tötung ihres Hauptfeindes Osama bin Laden. Sie führen die meisten Kriege und hängen dann einen Gedemütigten, dem sie zuvor Geld und Waffen verkauft haben.

Dies widerspricht ganz einfach allem reifen Denken, widerspricht der minimalen Beachtung der Menschenrechte beziehungsweise dessen, was wir bis anhin unter Rechtsstaatlichkeit verstanden.

Der Hinweis, es habe sich ja um Diktatoren gehandelt, ist Hohn. Gemessen an den zu verantworteten Toten oder sonstwie vernichteten Existenzen müssten etliche Spitzenpolitiker in den USA, aber auch in Europa, Afrika, Asien und Südamerika gejagt und gelyncht werden.

Reife Leute und rechtsachtende Regierungen unterscheidet von der Barbarei und ihrem heulenden Mob, dass sie nicht Auge um Auge gleichwertig heimzahlen, sondern nach rechtlichen Normen und Formen ahnden, die dem subjektiven Rachebedürfnis Einhalt gebieten. Nichts davon heute. Weder dort noch hier. Das ist bedenklich und skandalös zugleich.

Dies kommt nicht von ungefähr. Antiaufklärerisch, gegenvernünftig, instinkt- und trieborientiert wurde über Jahre die Politik der Emotionen, die Vorherrschaft des "Bauchs" (früher war es das Herz, was dem Hirn entgegenstand, heute ist es in die untere Region gerutscht) gefördert. Auch bei uns weisen Vorzeichen auf eine Verrohung, die nicht als solche erkannt und gedeutet wird: Keine Verjährung - im gutmenschlichen Sinne wird unverjährbarer Rache das Wort geredet. Es geht um die Befriedigung tiefsitzender Strafbedürfnisse.

Geschieht ein grausiges Gewaltverbrechen, wird sofort gesellschaftlich verallgemeinert. Nach dem Bekanntwerden der Fälle Kampusch und Fritzl urteilten sonst vernünftig Publizierende, dass sie sich schämten, Österreicher zu sein, sprachen von einer "Kellergesellschaft". Bei Vergewaltigungen und Missbräuchen wird, bevor überhaupt durch präzise Nachforschung der Wahrheitsgehalt erbracht ist, soweit das überhaupt möglich ist, sofort ge- und verurteilt. Wie lange bleibt es noch bei verbalen Attacken? Wann folgt diesem Hass, dieser Wut, die Tat?

Wutbürger allerorten. Die Unterscheidung von Protest und böser Rache wird schwieriger.