Das Wahlmännerkollegium und die Wahl des Präsidenten in den USA: Warum der Kandidat mit den meisten Stimmen verlieren kann und immer dienstags gewählt wird.
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Die Wahl des amerikanischen Präsidenten erscheint aus europäischer Sicht vielen seltsam: Der Kandidat mit den meisten Stimmen verliert gelegentlich, die Wahl selbst findet an einem Dienstag statt, und letztendlich wird der Präsident von Wahlmännern gewählt. In diesem Artikel versuche ich zu erklären, wie es dazu kam und warum die Präsidentschaftswahlen in den USA ganz anders ablaufen als in Europa.
Unsere Geschichte startet im Jahr 1787 in Philadelphia, Pennsylvania. Knapp vier Jahre nach dem Ende des Unabhängigkeitskrieges trafen sich Vertreter aus den damals 13 amerikanischen Staaten, um über eine neue Verfassung zu verhandeln. Die 1777 verabschiedeten Konföderationsartikel, die eher einem völkerrechtlichen Vertrag zwischen unabhängigen Staaten als einer Verfassung ähnelten, hatten sich schnell als nicht funktional herausgestellt. So hatte die äußerst schwach konzipierte nationale Legislative nicht einmal das Recht, Steuern einzuheben. Im Endeffekt kann man sich den amerikanischen Staat unter den Konföderationsartikeln ähnlich wie die heutige EU vorstellen: ein zentrales Gebilde mit souveränen Staaten und klar definierten, oft nicht sehr weitgehenden Zuständigkeiten.
Die Analogie zur EU hilft uns nun auch dabei, uns vorstellen zu können, wie schwer es war, eine Verfassung auszuarbeiten, der alle dreizehn Staaten zustimmten. Dass im Endeffekt tatsächlich eine Verfassung zustande kam, ist zahlreichen Kompromissen und Zugeständnissen wie auch der moralischen Autorität des Vorsitzenden des Verfassungskonvents, George Washington, zu verdanken. Zentrale Fragen bei der Konstruktion der Verfassung waren die Zusammensetzung und Wahl der Legislative und der Exekutive, also des Kongresses und des Präsidenten.
Bevor wir mehr über die Wahl des Präsidenten erfahren, müssen wir uns zuerst mit der Legislative auseinandersetzen. Hier stellte es sich als außerordentlich schwierig heraus, die tiefen Konfliktlinien einerseits zwischen Nord- und Südstaaten und andererseits zwischen den bevölkerungsreichen und bevölkerungsarmen Staaten zu überbrücken. Im Endeffekt konnte aufgrund von zwei Kompromissen eine Einigung hergestellt werden. Zuerst stimmten die Abgeordneten dem Connecticut-Kompromiss, wonach eine aus zwei Kammern bestehende Legislative geschaffen werden soll, zu. Dabei sollen die Staaten im Repräsentantenhaus proportional nach der Anzahl der Bevölkerung vertreten sein, während im Senat jedem Staat zwei Stimmen zugewiesen werden.
Sklave zählte zu drei Fünftel
Während dies die bevölkerungsärmeren Staaten beschwichtigte, war es für die Südstaaten nicht ausreichend. Sie wurden erst mit der Drei-Fünftel-Formel, wonach bei der Berechnung der Bevölkerungszahl jeder Sklave und jede Sklavin mit drei Fünftel einer weißen Person berücksichtigt werden, endgültig an Bord geholt. Für die Wahl des Präsidenten waren nun sehr lange zwei Varianten im Gespräch: einerseits die Wahl durch das Repräsentantenhaus, andererseits durch ein extra für die Präsidentenwahl geschaffenes Wahlmännerkollegium. Die erste Variante stieß sowohl auf ein theoretisches als auch auf ein praktisches Problem. Das theoretische war, dass mit der Wahl durch die Legislative das Prinzip der Gewaltentrennung durchbrochen worden wäre. Das praktische Problem war, insbesondere für die bevölkerungsärmeren Staaten, dass das Repräsentantenhaus auf der Bevölkerungsanzahl aufbaute.
Erneut war ein Kompromiss, diesmal in Form des Wahlmännerkollegiums, von Nöten: Hier erhielt jeder Staat so viele Stimmen, wie er Abgeordnete im Kongress hatte, wodurch die bevölkerungsarmen Staaten überproportional viel Einfluss bekamen. Aus heutiger Sicht betrachtet, hätte die erste Lösung über das Repräsentantenhaus zwischen Kalifornien und Wyoming zu einem Stimmenverhältnis von 53:1 geführt. Durch das Wahlmännerkollegium ist das tatsächliche Machtverhältnis nun aber, da man die beiden Senatoren pro Staat hinzuaddiert, 55:3 - während sich somit das Gewicht von Wyoming verdreifacht, wächst jenes von Kalifornien um gerade einmal 3,8 Prozent.
Warum stimmten die bevölkerungsreichen Staaten dieser Lösung zu? Sie nahmen an, dass ohnehin nur sehr selten Kandidaten im Wahlmännerkollegium die erforderliche absolute Mehrheit erreichen würden. In diesem Fall würde schließlich doch wieder das Repräsentantenhaus zum Zug kommen und den Präsidenten wählen.
Aber auch hier mussten die großen Staaten im letzten Moment ein Zugeständnis machen: Sollte das Repräsentantenhaus zum Zug kommen, so hat dort jeder Staat nur eine Stimme, was die Rolle der bevölkerungsreichen Staaten noch weiter schwächt. Im Endeffekt stimmten sie dennoch zu, da Gesetze ohnehin nur mit Zustimmung des Repräsentantenhauses beschlossen werden können. Die Erwartung, dass das Wahlmännerkollegium regelmäßig keine Entscheidung treffen können würde, erwies sich aber als falsch: Nur zweimal, 1804 und 1824, musste das Repräsentantenhaus zur Wahl des Präsidenten schreiten.
Wie wir bisher sehen konnten, hat das Wahlsystem in den USA somit durchaus eine rationale Grundlage, die vor allem in der Verteilung des Stimmgewichts zwischen den Bundesstaaten liegt. Die wahlberechtigte Bevölkerung wählt nun somit Wahlmänner, die anschließend deren Willen im Wahlmännerkollegium zum Ausdruck bringen sollen.
Tiefgläubige Landwirte
Warum geschieht diese Wahl allerdings an einem Dienstag? Dafür muss man sich die sozio-ökonomische Struktur der USA um 1790 vor Augen führen, als der Großteil der Bevölkerung sowohl tiefgläubig als auch in der Landwirtschaft tätig war. Somit konnte unmöglich an einem Sonntag, dem Tag des Herrn, oder einem Mittwoch, dem traditionellen Markttag gewählt werden. Nachdem teilweise eine eintägige Reise zum Wahllokal in Kauf zu nehmen war, fielen somit auch Montag und Donnerstag weg, weshalb im Endeffekt die Wahl auf Dienstag fiel. Die kommende Präsidentschaftswahl ist am 3. November 2020 -ein Dienstag.