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Die Rätsel der Nacht

Von Christian Hoffmann

Reflexionen
© gettyimages

Mit ihren Träumen beschäftigen sich die Menschen seit grauer Vorzeit. Ebenso alt ist der Wunsch, das im Schlaf Erlebte zu deuten. Handelt es sich um Botschaften der Götter? Wird in Träumen gar die Zukunft verraten? Oder reagieren sich im Ruhezustand überreizte Nerven ab und | produzieren sinnlose Bilder?


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Für Homer, den Dichter der frühen griechischen Antike, war es noch ganz selbstverständlich, den Traum als Botschaft der Götter zu behandeln. Am Beginn der kriegerischen Ereignisse, die in der "Ilias" zum Untergang der Stadt Troja führen, steht ein Traum, in dem der göttliche Zeus dem König Agamemnon eine Botschaft übermittelt. Sofort nach dem Erwachen des Königs wird eine Zusammenkunft der Achaier einberufen, die bereits zur Heimreise entschlossen waren. Der Bericht von dem Traum beeindruckt die Versammelten so sehr, dass sich das kriegsmüde Heer noch einmal zu einem Angriff überreden lässt.

Wie heikel allerdings der Umgang mit solchen Botschaften der Götter auch in der Antike gesehen wurde, zeigt der Fall des Perserkönig Xerxes, der nach langem Überlegen auf den geplanten Feldzug gegen Griechenland verzichten wollte. Eines Nachts wird er jedoch durch einen Traum umgestimmt, in dem ihm eine verhüllte Gestalt erschienen sein soll, die ihn doch noch zur Durchführung des Unternehmens auffordert. Sein Feldzug endete vor 2500 Jahren, im September des Jahres 480 v. Chr., mit der vernichtenden Niederlage des persischen Heeres bei Salamis.

Der Philosoph Aristoteles, der Urvater der Naturwissenschaften, der etwa hundert Jahre nach den Ereignissen bei Salamis lehrte, weigerte sich bereits, die Erlebnisse im Traum als göttliche Inszenierungen zu verstehen. In seinem psychologischen Hauptwerk "Über die Seele" verweist er auf die empirische Beobachtung, dass auch Tiere träumen, und folgert daraus, dass das Nervensystem im Traum die starken Reize der Erlebnisse aus dem Wachzustand verarbeitet. Er vergleicht den Traum mit den abklingenden Wellenbewegungen im Wasser, in das man einen Stein geworfen hat.

Die nüchternen Argumente des Athener Philosophen änderten natürlich nichts daran, dass in der Antike die Traumdeutung als Zweig der Wahrsagerei ein gutes Geschäft war. Von den unzähligen Fachbüchern jener Zeit ist die "Traumkunst" des Artemidor erhalten, in der ein Versuch unternommen wird, Traumbilder systematisch zu analysieren. Außerdem betonte der Autor darin auch, dass bei der Interpretation von Träumen immer die persönliche Situation des Träumers sowie die gesellschaftlichen Gepflogenheiten seiner Umgebung berücksichtigt werden müssten. Ein Hinweis, der übrigens auch sehr zu gut dem heldenhaften Traum des Agamemnon bei Homer passt, da diesem Traum ein heftiger Streit im Lager der Griechen um eine erbeutete Frau vorausgeht.

Der intime Code

Sigmund Freud, dessen Arbeit den Beginn der modernen Traumanalyse markiert, stellt an den Beginn des Buches "Traumdeutung", das erstmals im Jahr 1900 erschien, eine ausführliche Auseinandersetzung mit den Schriften des Artemidor, soferne sie sich mit der Persönlichkeit des Träumenden befassen. Wobei Freud natürlich nichts mit Traumdeutung als Wahrsagerei im Sinne hat. Sein Zugang ist der des Mediziners, der in der Behandlung von Neurosen unter anderem auch durch die Arbeit am Traum Hinweise auf tiefer liegende seelische Konflikte seiner Patienten finden will. Die Schwierigkeit sieht er dabei allerdings darin, dass die Konflikte, Wünsche und Hoffnungen, die durch Erlebnisse im Wachzustand akut geworden sind, unter dem Druck von Erziehung und Konventionen, die das Erwachsenenleben ausmachen, verschwinden und nur noch in verrätselten Bildern zugänglich sind.

Auf Freud geht eines der wichtigsten Verfahren im Umgang mit Träumen zurück, das er nach eigenen Berichten erstmals im Jahr 1895 anwandte. Es ist das die Methode der freien Assoziation, die davon ausgeht, dass der Code des Traumes, mit dem dessen versteckte Inhalte entschlüsselt werden können, zur Gänze individuell ist und nur vom Träumenden selbst gefunden werden kann. Er hielt also seine Patienten dazu an, ihren Assoziationen zu den Traumerlebnissen freien Lauf zu lassen, um auf diese Art selbst das Material zur Traumdeutung zu finden.

Im Schlaflabor

Die Arbeiten Freuds, in denen die Auffassung des Traums als eines sinnvollen Gebildes eine wichtige Rolle einnahm, wurden im ganzen 20. Jahrhundert heftig diskutiert. Sie hatten ihre Auswirkungen nicht nur in einschlägigen Fachdebatten, etwa den Arbeiten von Alfred Adler, Carl Gustav Jung oder Erich Fromm, sie stießen auch zahlreiche kulturelle Auseinandersetzungen an und wurden in Kunstströmungen wie dem Surrealismus rezipiert.

Einen wichtigen Einschnitt markiert das Jahr 1953. Damals entdeckten Nathaniel Kleitman und Eugene Aserinsky an der Universität von Chicago ein bis dahin unbekanntes Phänomen: Bei der Untersuchungen von schlafenden Personen mithilfe des Elektroenzephalogramms konnten sie nachweisen, dass sich im Schlaf ruhigere Phasen und Perioden erhöhter Aktivität vor allem der Augenmuskulatur abwechseln. Wenig später fand man heraus, dass diese Phasen des "Rapid-Eye-Movmentes" (REM) von starker geistiger Aktivität, von besonders lebhaften Träumen, begleitet wurden.

Dieser Entdeckung folgten zahllose Experimente in Schlaflabors, die erstaunliche Ergebnisse brachten. So zeigte sich, dass Versuchspersonen, die regelmäßig vor der REM-Schlafphase geweckt wurden, sehr bald verstört reagierten. Daraus ergab sich die Schlussfolgerung, dass der Zustand des Träumens eine Notwendigkeit für die Gesundheit des Schlafenden ist, unabhängig davon, ob sich der Träumende an seine Träume erinnert oder nicht. Umgekehrt zeigten Experimente von Harry Fiss, der bis vor kurzem in New York lehrte, dass sich der psychische Zustand von Menschen, die sich systematisch mit ihren Träumen befassten, auffallend stabilisierte.

Der Neurobiologe Jonathan Winson entwickelte aus Studien über den REM-Schlaf von Säugetieren sogar die Theorie, dass für alle Säugetiere, die ihre Jungen lebend zur Welt bringen, das Träumen im Zuge der Evolution vor etwa 150 Millionen Jahren überlebenswichtig geworden ist. Da für diese Säugetiere der Entwicklung des Gehirnvolumens biologische Grenzen gesetzt sind, seien die Aktivitäten im REM-Schlaf eine besonders effiziente Möglichkeit, große Informationsmengen aus dem Wachzustand zu verarbeiten. Die Lernfähigkeit höherer Säugetiere ist nach dieser Auffassung an die Fähigkeit des Träumens geknüpft.

Moderne Psychoanalytiker wie Stanley Palombo aus Washington verstehen daher den Traum als einen Prozess, in dem Informationen abgeglichen werden. Was der Akteur im Wachzustand erlebt, wird in der vergleichsweise ruhigen Zeit des Schlafes mit den Inhalten des Langzeitgedächtnis verglichen, einer Art biologischer Datenbank, die das Verhalten steuert. Gelingt dieser Abgleich und lassen sich die verschiedenen Erfahrungen miteinander in Einklang bringen, entsteht eine neue Assoziation. Wenn sich jedoch neue Informationen und bisher gespeicherte Erfahrungen nicht verknüpfen lassen, wacht der Träumer mit Angst oder anderen unbehaglichen Gefühlen auf.

In mehreren tausend Jahren hat sich die Menschheit also von dem Gedanken gelöst, dass Träume Botschaften aus dem Reich der Götter wären. Die Bedeutung von Träumen ist deswegen aber nicht geringer geworden. Im Gegenteil. Der gute alte Rat "Schlafe darüber!" hat angesichts der modernen Auffassung vom Träumen sogar tiefere Bedeutung gewonnen.

Buchtipps.

"Traum und Traumdeutung" von Wolfgang Mertens; Verlag C. H. Beck, München 2009.

"Schlaf & Traum. Neurobiologie, Psychologie, Therapie",

hrsg. von Michael Wiegand, Hans Förstl,Flora von Spreti;

Verlag Schattauer, Stuttgart 2006.