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Die Realität im alten Rom

Von Christian Ortner

Wissen

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Es war ein hartes, prekäres und stets vom Tod bedrohtes Leben. Jeder Zweite starb bereits vor dem 20. Geburtstag, nur ganz wenige wurden älter als 50. Und darüber, wie sie gelebt haben, gibt es erstaunlich wenig gesichertes Wissen: die einfachen Menschen des Römischen Reiches, die Angehörigen der unteren sozialen Schichten, die Soldaten, die Sklaven, die Freigelassenen, die einfachen Arbeiter und kleinen Bauern, die Gladiatoren und die Prostituierten. Während das Leben der Eliten, der Politiker und Philosophen, bestens dokumentiert ist, wissen wir über die Lebensverhältnisse der kleinen Leute bis heute erstaunlich wenig.

Es sind Menschen, "die von der Geschichte vergessen worden sind", formuliert der amerikanische Historiker Robert Knapp zutreffend in seinem jüngsten Buch "Römer im Schatten der Geschichte". Das Bild, das die römische Elite von ihrer Gesellschaft zeichnete und das bis heute unser Wissen von jener Epoche dominiert, hatte mit der Wirklichkeit der meisten Einwohner des Reiches sehr wenig zu tun: "Die Quellen für dieses Weltbild entstammen der Oberschicht, die nur 0,5% der Bevölkerung ausmachte, aber 80% des Vermögens besaß." Wie die restlichen 99,5 Prozent - also zu Beginn unserer Zeitrechnung etwa 50 bis 60 Millionen Menschen - lebten, beschreibt Knapp in einem der lesenswertesten historischen Bücher der letzten Jahre.

Seinen Reiz bezieht der Text nicht zuletzt daraus, dass es den Leser des 21. Jahrhunderts ein wenig in die Lage eines "Big Brother"-Zusehers versetzt, der dem gemeinen Volk der Römerzeit beim tagtäglichen Leben zusieht, teilweise beim sehr privaten Leben. Detailliert erfahren wir nicht nur, wie die Arbeits- und Lebensbedingungen jener Zeit waren, sondern beispielsweise auch die sexuellen Usancen: "Eine beliebte Verhütungsmethode waren Zaubersprüche wie diese Anweisung für einen magischen Bann: Nimm eine durchbohrte Bohne und binde sie in Maultierleder und häng sie dir um... Man versuchte es auch mit Knaus-Ogino, doch wenn die Ärzte meinten, die weibliche Ovulation zu verstehen, hatten sie sich verrechnet" - sie empfahlen nämlich zwecks Verhütung Sex just an den fruchtbaren Tagen.

Wenig einladend auch die Beschreibung des beim gemeinen Volk beliebten Lebens in den Thermen, die uns an sich ja als Symbole zivilisatorischen Fortschrittes geläufig sind: "Alles, was die Menschen an Unrat, Dreck Körperflüssigkeiten und Keimen mit ins Bad brachten, hatte das Wasser alsbald auf die übrigen Badenden übertragen..." Dass Ärzte besonders den an Infektionskrankheiten Leidenden den Besuch der Thermen anempfohlen, dürfte die Lage nicht eben verbessert haben.

Aber auch im Trockenen dürften die ärmeren Römer das kurze Leben genossen haben, so gut es ging: "In den Wirtshäusern und Bars ging es lebhaft zu. Es gab nicht nur Speis und Trank, häufig standen auch Frauen zur Verfügung, es rollten die Würfel. ... Da Bücher meist ein Gegenstand des Luxus für die Reichen waren, wurde Literatur jeglichen Niveaus mündlich vermittelt. Dichter standen in Parks und an Straßenecken und rezitierten für jeden, der zuhören wollte."

Parallelen zu heute

Zu den beliebtesten Formen des Zeitvertreibs der niedrigeren Stände gehörten freilich deftigere Vergnügungen: Tierhatzen, ordinäre Bühnenstücke (gern mit nackten Darstellern), Hinrichtungen von Verbrechern und natürlich Gladiatorenkämpfe; oft auch alles zusammen auf offener Bühne. Dass nicht nur Sklaven und Gefangene in die Rolle des Gladiators gezwungen wurden, sondern auch freie Männer - und übrigens auch Frauen - ganz freiwillig ihr Leben in der Arena riskierten, widerspricht dem gängigen Gladiatoren-Klischee.

Viele dieser Kämpfer scheinen eher Vorfahren der heutigen Formel-1-Piloten oder anderer Hochrisiko-Sportler gewesen zu sein: Sie riskierten ihr Leben, um sich dafür ein Leben leisten zu können, das sie sich anders nicht hätten leisten können. - Es ist dies nicht die einzige Passage dieses klugen, amüsanten und spannenden Buches, bei der sich der Leser denken mag, dass der zivilisatorische Fortschritt jener 2000 Jahre, die seither vergangen sind, nicht eben überdimensioniert ist.

Sachbuch

Römer im Schatten der Geschichte. Gladiatoren, Prostituierte, Soldaten: Männer und Frauen im Römischen Reich

Robert Knapp

Übersetzt von Ute Spengler.

Klett-Cotta, 398 Seiten, 25,70 Euro