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Seit Jahresbeginn regieren die Nationalisten auf Korsika mit absoluter Mehrheit und fordern Selbstbestimmung.
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Ajaccio. Langsam erhebt sich die Sonne über Ajaccio und taucht die Häuser der korsischen Hauptstadt in ein warmes Licht. Im Bistro La Casa Bonaparte treffen sich die Insulaner zum morgendlichen Kaffee. Hier, zwei Schritte von Napoleons Geburtshaus entfernt, wo sich die Stammgäste im Sommer über die Touristenmassen beschweren, animiert seit drei Monaten ein anderes Thema die Gespräche: Korsikas Regionalregierung. "Jetzt wird alles besser. Die Autonomie war noch nie so nahe", ruft ein Pensionist. Ein Geschichtslehrer vom Nebentisch mischt sich ein. "Hör doch auf", sagt er. Dann dreht er sich zu seiner Begleitung und flüstert: "Diese Nationalisten. Und dabei haben viele von ihnen nicht einmal korsische Vorfahren." Der Wirt kommt hinzu. "Lasst ihnen doch eine Chance", sagt er, "immerhin bieten sie Paris die Stirn."
Nationalisten am Ruder
Seit Jahresbeginn regieren die Nationalisten auf Korsika mit absoluter Mehrheit. Überraschend eindeutig haben sie die Regionalwahl im vergangenen Dezember gewonnen: mit 56 Prozent der Stimmen. Die Allianz von Autonomisten und Separatisten hat damit nicht nur 41 der 63 Sitze im korsischen Parlament inne, sondern, dank eines neuen Sonderstatus, auch mehr Macht als alle ihre Vorgänger.
Denn mit Ende 2017 wurden die bisherigen zwei Départements der Insel aufgelöst und ihre Kompetenzen auf die neue "einheitliche Gebietskörperschaft" übertragen. In der nördlichen Küstenstadt Bastia ließen sich der Autonomistenchef Gilles Simeoni und der Separatistenführer Jean-Guy Talamoni feiern. Zahlreiche Menschen versammelten sich in den Straßen. Viele schwenkten die korsische Fahne: der Mohrenkopf auf weißem Grund. Einzig die geringe Wahlbeteiligung von 52 Prozent verlieh dem Sieg einen bitteren Beigeschmack.

Unterdessen blickte Paris besorgt auf die Mittelmeerinsel. Denn dem französischen Zentralstaat kam das Ergebnis alles andere als gelegen. "Könnte Korsika Kataloniens Beispiel folgen?", grübelten Experten, Historiker und Journalisten in sämtlichen Medien des Landes.
Autonomiebestrebungen sind auf Korsika nichts Neues. Die Mittelmeerinsel, die etwa so groß ist wie Kärnten, aber nur halb so viele Einwohner hat, gehört erst seit 1768 zu Frankreich. Davor war sie jahrhundertelang Teil von Pisa und Genua. 1755 erkämpften sich die Korsen sogar kurz die Unabhängigkeit. Der Mann, der das möglich machte, Pasquale Paoli, wird bis heute als Held und Vater der Nation verehrt. Doch international anerkannt wurde das unabhängige Korsika nicht und nur 13 Jahre später annektierten es die Franzosen. Die Nationalisten kehren das noch heute gerne hervor: "Wir wurden einfach einkassiert", ärgert sich Jean-Pierre Raviola. Der 63-Jährige geht am Marktplatz Ajaccios mit seinem Hund spazieren. Er habe sich nie als Franzose gefühlt. "Ich hoffe, dass ich eines Tages in einem unabhängigen Korsika leben kann", sagt er. Für das nationalistische Bündnis steht die Unabhängigkeit jedoch nicht an der Tagesordnung. Die stimmenstärkeren und gemäßigteren Autonomisten wollen ein weitgehend selbstbestimmtes Korsika innerhalb Frankreichs. Die radikaleren Separatisten wünschen sich in frühestens zehn Jahren ein Unabhängigkeitsreferendum.

2015 siegten die Nationalisten erstmals bei einer Regionalwahl. Im ersten Durchgang traten Autonomisten und Separatisten noch mit getrennten Listen an. Für die zweite Runde schlossen sie sich unter Simeonis Führung im Bündnis Pè a Corsica zusammen. Sie erzielten 35 Prozent der Stimmen und zogen unter Jubel ins korsische Regionalparlament ein, ein ehemaliges Grand-Hotel mit beeindruckendem Palmengarten.
Gilles Simeoni wurde als Präsident des Exekutivrats, der korsischen Mini-Regierung, vereidigt, der Separatist Jean-Guy Talamoni als Präsident des Parlaments. Beide hielten ihre Antrittsrede auf Korsisch.
Die korsische Sprache ist eines der großen Anliegen der Nationalisten. Sie wollen sie vor dem Verschwinden bewahren. Am liebsten wäre ihnen dazu, dass Paris sie zur zweiten Amtssprache auf der Insel macht. Unter den älteren Insulanern sprechen bis heute die meisten fließend Korsisch, bei der Jugend sind es nur mehr wenige, obwohl fast alle Schulen Korsischunterricht und viele auch zweisprachige Klassen anbieten.
Im Lycée Fesch, einem prunkvollen Gymnasium mit gelber Fassade, direkt am Hafen Ajaccios, unterrichtet Paul-Vincent Mucchielli die Sprache seit knapp zwanzig Jahren. Vor elf Sechzehnjährigen, die Korsisch als Wahlfach belegen, spricht er über den Ursprung der Sprache, ihre Verwandtschaft zum Italienischen und ihre Eigenheiten. Nur zwischendurch rutscht ihm dabei ein französisches Wort heraus. "Das Korsische ist ein wichtiger Teil unserer Kultur", findet der 53-Jährige. Als Kind sprach er mit seinen Eltern nur Korsisch. Französisch lernte er erst im Kindergarten. "In den letzten Jahren interessieren sich wieder mehr Jugendliche für die Sprache" erklärt Mucchielli. Oft würde aber außer Acht gelassen, welche Vorteile das Korsische bringt. "Dabei kann man damit auch in Italien arbeiten", sagt er.

Grassierende Armut
Neben der zweiten Amtssprache traten die Nationalisten mit weiteren Forderungen an Paris heran: der Freilassung bewaffneter Unabhängigkeitskämpfer, die in Gefängnissen auf dem Festland sitzen, und der Einführung eines "Einwohnerstatus". Damit wollen sie mitunter Millionären vom Festland den Kauf von Ferienvillen auf der Insel erschweren und so der Explosion der Immobilienpreise entgegenwirken. Nur diejenigen sollen Immobilien kaufen dürfen, die seit mindestens fünf Jahren dauerhaft auf Korsika leben, so die Idee. Das soll zusammen mit der Entwicklung erneuerbarer Energien und Technologie-Start-ups wirtschaftlichen Aufschwung bringen.
Den hat die Insel bitter nötig. 20 Prozent der Korsen leben unter der Armutsgrenze, mehr als in jeder anderen Region Metropolfrankreichs. Auch die Arbeitslosenquote ist mit 10,2 Prozent höher als auf dem Festland, der Bildungsgrad geringer. Von den jungen Korsen, die zum Studieren ans Festland gehen, kommen nur wenige zurück. Die Infrastruktur ist schlecht, das gebirgige Landesinnere dünn besiedelt. Die meisten der 326.000 Insulaner leben an der Küste, vom Tourismus, Beamtenstellen und Subventionen des Staates.
Jahrzehntelang war Korsika von drei Familienclans regiert worden, die oft wegen Korruption von sich reden machten. Auch Gilles Simeoni hat wohl entscheidend zu dem Wahlsieg beigetragen. Selbst bei Autonomiegegnern genießt der charismatische Fünfzigjährige hohes Ansehen. Sein schelmisches Lächeln brachte dem gelernten Anwalt den Spitznamen "korsischer Obama" ein. Manche nennen ihn auch "korsischen Macron", was aber nicht überall gut ankommt. Frankreichs Staatschef konnte bei den Präsidentschaftswahlen 2017 auf der Insel nicht punkten: Im ersten Durchgang landete er auf dem dritten Platz, hinter Marine Le Pen und François Fillon.
Simeonis Vater gilt als Gründer des modernen korsischen Nationalismus. 1975 besetzte der heute 83-jährige Edmond Simeoni mit rund zwanzig Männern das Weingut eines Algerierfranzosen bei Aleria, im Osten der Insel. Mit Jagdflinten bewaffnet, prangerte das Kommando Frankreichs Politik an, die die Ansiedlung von Franzosen aus den ehemaligen Kolonien förderte und ihnen Vorteile gegenüber den korsischen Bauern einräumte.
Paris reagierte sogleich und schickte gepanzerte Fahrzeuge, Helikopter und über tausend Polizisten und Gendarmen. Zwei wurden von den Nationalisten erschossen. Ein Jahr später entstand die Untergrundbewegung Frontu di Liberazione Naziunale Corsu (FLNC). Ihre Mitglieder verübten zahlreiche Anschläge, konzentrierten sich dabei aber meistens auf Gebäude - staatliche Einrichtungen oder Feriendomizile von Festlandfranzosen. Nur selten gingen sie direkt gegen Personen vor. 2014 kündigte die FLNC an, die Waffen niederzulegen, was die Nationalisten für viele Korsen vollends wählbar machte.
Mord an Erignac
Ein Mord bleibt ganz Frankreich aber bis heute im Gedächtnis: der am Präfekten Claude Erignac. 1998 erschoss der Nationalist Yvan Colonna Frankreichs höchsten Vertreter auf Korsika auf offener Straße und versetzte das Land in Aufruhr. Seitdem findet in Ajaccio jedes Jahr eine Gedenkveranstaltung statt. Letzten Februar, zum zwanzigsten Jahrestag des Mordes, war Emmanuel Macron anwesend - als erstes französisches Staatsoberhaupt. In einer feierlichen Zeremonie weihte Macron den Place Erignac ein: an der Straßenecke, an der der Präfekt auf dem Weg zum Theater erschossen wurde. Dort, abseits des belebten Zentrums Ajaccios, neben grauen Wohnblocks, einer Autowerkstatt und einer geschlossenen Boulangerie, steht seitdem ein Olivenbaum. Ein Mann hält davor inne. Den Präfekten habe er gekannt, "ein sympathischer Mensch", sagt er. "Trotzdem braucht Macron nicht herzukommen und uns Lektionen zu erteilen", fährt er fort.
Die Korsen hatten sich viel vom Besuch des Staatspräsidenten erwartet. Er sollte auch die Verhandlungen über mehr Autonomie voranbringen. Doch Macron lehnte fast alle Forderungen ab. Nur einer Erwähnung Korsikas in der französischen Verfassung stimmte er zu. Die soll bei der ohnehin geplanten Verfassungsreform im Frühling umgesetzt werden. Mitte März legten die Nationalisten Macrons Regierung einen Entwurf zur Reform vor, der die Autonomie der Insel vorsieht und die Regionalregierung ermächtigt, in vielen Politikbereichen Gesetze zu erlassen.
Doch Paris geht der Vorschlag zu weit. Das Wort Autonomie werde im Zusammenhang mit Korsika nicht vorkommen, erklärte Frankreichs Korsika-Beauftragte Jacqueline Gourault. Und auch die neuen Kompetenzen der Regionalregierung dürften eher bescheiden ausfallen. "Der aktuelle Stand entspricht bei weitem nicht unseren Erwartungen", bedauerte Gilles Simeoni. Seit Macrons Besuch spricht er von "einer verpatzte Gelegenheit", der Separatistenführer Jean-Guy Talamoni sogar von einer "Erniedrigung der Korsen". Talamonis Partei Corsica Libera ist der legale Arm der FLNC. Den bewaffneten Kampf hat der 57-Jährige nie verurteilt. Am Festland schockierte er 2016, als er Frankreich als "befreundetes Nachbarland" bezeichnete. Früher arbeitete Talamoni als Anwalt und verteidigte Unabhängigkeitskämpfer. Heute lehrt er korsische Literatur in Corte, an der einzigen Universität der Insel.
Das 7000-Einwohner-Städtchen Corte ist der einzig größere Ort im Landesinneren. Zwei Stunden braucht man für die 80 Kilometer von Ajaccio mit der Bahn dorthin. Der Weg führt über gebirgiges Hochland und dichte Wälder. Die Universitätsstadt gilt als Hochburg der Nationalisten.
An vielen Hausmauern prangen Graffiti wie "A Francia fora", Frankreich hinaus. Talamoni sitzt in einem Café auf der anderen Straßenseite des Campus. Er trägt einen dunklen Anzug, weißes Hemd, blaue Krawatte. Seine Stirn liegt in Falten. "Die absolute Mehrheit der Korsen hat uns ihr Vertrauen ausgesprochen. Wenn Macron alle unsere Forderungen ablehnt, ist das anti-demokratisch", sagt er erbost. Sollte die Regionalregierung nun auch bei der Verfassungsreform scheitern, "dann bricht auf Korsika die Hölle los", ist er sicher. Bisher zeigten nur einige junge Korsen ihren Unmut über Macrons Besuch. An mehreren Gymnasien gab es Proteste. In Corte traten elf Studenten drei Tage lang in Hungerstreik und blockierten die Rechtsfakultät. Der Unterricht fiel aus. "Das war übertrieben", findet eine Studentin, die mit ihren Klassenkameraden vor der Universität Kaffee trinkt. Ihr Kollege widerspricht: "Nur so bekommen sie Aufmerksamkeit." Das nächste Mal werde der Protest größer ausfallen, ist er überzeugt. 4600 Studenten besuchen die Universität in Corte.
"Kämpfe, Jugend!"
Es gibt drei Gewerkschaften, die alle nationalistisch sind. Eine davon ist Ghjuventù indipendentista. Sie tritt für die Unabhängigkeit ein. Anna-Maria Graziani ist seit wenigen Wochen Vorsitzende der Bewegung. In einem Veranstaltungszelt auf dem Campus legt die zierliche 20-Jährige Flyer bereit und T-Shirts mit einem korsischen Aufdruck, der so viel bedeutet wie "Kämpfe Jugend, du bist die Zukunft". Neben ihr richten zwei Mädchen Getränke an und schmieren Sandwiches. Die Studenten bereiten sich auf die "Scontri Internaziunali di a Ghjuventù in Lotta" vor: drei Tage Veranstaltungen, Debatten und Konzerte zum Thema "Unabhängigkeitsbestrebung". Dazu haben sie junge Aktivisten aus Katalonien, dem Baskenland und Sardinien eingeladen. Graziani will den Kampf für die Unabhängigkeit nicht den korsischen Politikern überlassen. "Schon immer war es die Jugend, die sich für Korsika eingesetzt hat", sagt sie. An diesem Abend sollen vor dem Publikum ehemalige Unabhängigkeitskämpfer sprechen, die auf dem Festland in Haft waren. Auf der Bühne bereiten ein paar junge Männer die Technik vor. Hinter dem Rednerpult hängen sie ein Banner mit einem maskierten bewaffneten Mann, ein Mitglied der FLNC. Darunter steht: "Eroi di l’eternu" - ewiger Held. "Die Jugend hat ein verklärt romantisches Bild vom bewaffneten Konflikt, weil sie die Jahre der schlimmsten Gewalt nicht erlebt hat", erklärt der Journalist Antoine Albertini.