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Die Reine Rechtslehre im Spiegel des Völkerrechts

Von Matthias G. Bernold

Wirtschaft

Wie relevant sind Hans Kelsens Forschungen und Theorien für das Völkerrecht? Mit dieser Frage beschäftigten sich vergangene Woche renommierte Rechtsexperten bei einem Symposion.


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Dass Kelsen die österreichische Bundesverfassung von 1920 maßgeblich mitgestaltet hat und mit seiner Reinen Rechtslehre interessantes rechtsdogmatisches Terrain beschritt, ist eine wohlbekannte Tatsache. Wie aber vertragen sich die streng am Wortlaut hängenden Kelsen'schen Interpretationsregeln und seine (versuchte) strikte Trennung des Rechts von Begleiterscheinungen wie Politik, Ethik oder Moral mit einer - überzeugte Völkerrechtler mögen hier kurz weghören - derart schwammigen Materie, wie sie das Recht der Staaten und Staatengemeinschaften mit ihrer Fülle an bilateralen und multilateralen Verträgen, Konventionen, Empfehlungen, Richtlinien und sonstigen Konstrukten ist?

Nicht sehr gut, meint Völkerrechtlerin Lilly Sucharipa, die in ihrem Referat zu einem durchaus kritischen Befund der Praxisrelevanz Kelsens kommt. Kelsens Kommentare der UN-Charta seien weniger aus Sicht der Völkerrechtler interessant, "die einmal zu einem bestimmten Problem etwas nachschlagen wollen", sondern eher für jene, die sich mit dem Werk Kelsens aus theoretischer Sicht befassen wollten.

Inkonsequent?

Wesentliche völkerrechtliche Phänomene wie etwa die "implied powers-Lehre", (wonach Internationale Organisationen die Kompetenz zu jenen Handlungen haben, die sich aus ihren Funktionen ergeben, auch wenn dies nicht ausdrücklich vertraglich verankert ist), habe Kelsen ausgeklammert. Sein eigenes rechtsdogmatisches System habe er nicht konsequent auf das Völkerrecht angewandt. Auch für Otto Pfersmann, Rechtsprofessor in Paris, hat Kelsen als Völkerrechtler den Boden der Reinen Rechtslehre verlassen: "Wo es ihm adäquat erschien, hat er im Sinne seiner Rechtslehre argumentiert - war dies nicht der Fall, näherte er sich dem Interpretationsrealismus an."

Geordneter Zugang

Zur Verteidigung Kelsens setzen die Verfassungsrechtler Manfred Rotter und Robert Walter an. "Kelsens Ansatz verändert die Sicht auf das Völkerrecht nicht radikal", formuliert Rotter, "aber er bietet einen geordneteren Zugang".

Und dies sei jedenfalls zielführender, als alles unreflektiert einwirken zu lassen. Walter, Geschäftsführer des Hans-Kelsen-Instituts und gewissermaßen die rechtspositivistische Eminenz Österreichs, streicht Kelsens Bemühen hervor, auch im Völkerrecht klare Regelungen zu schaffen. In seinem Referat vergleicht er Kelsen mit dessen Zeitgenossen Verdroß, der - anfänglich Anhänger Kelsens - zur Naturrechtslehre konvertierte. Verdroß habe von der Antike ausgehend alle relevanten Strömungen der Rechtsphilosophie untersucht. Ein wissenschaftliches Naturrecht hat er - laut Walter - dort aber nicht gefunden, "weil man es ja auch nicht finden kann".

Recht und Widerstand

In diese Grundsatzdebatte greift Staatsrechtler Heinz Peter Rill ein und spricht ein altes Dilemma an: "Die Reine Rechtlehre lässt uns etwa im Nationalsozialismus völlig allein, sie rät uns nicht, gegen ein verbrecherisches Regime zu kämpfen." Nur zu sagen: Weil es ein Gesetz ist, muss man sich daran halten, reiche nicht. Allerding, räumt Rill ein, seien die Kelseninaner nicht Schuld gewesen an den Nazi-Gräueln. Rill: "Die Metaphysiker sind es, die Hexen verbrannt haben, weil sie dachten, die absolute Wahrheit gepachtet zu haben."