Weltweit ist die Arbeitsorganisation im Umbruch - von New York bis nach Neu-Delhi.
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World Wide Web. "Als Clickworker arbeiten Sie vollkommen selbstständig und flexibel von jedem beliebigen PC mit Internetanschluss aus und verdienen Geld!" Auf der Webseite Clickworker kann jeder einfache Aufträge bearbeiten und wird dafür entlohnt, Voraussetzungen gibt es keine. Klingt nach leicht verdientem Geld, doch dahinter steckt ein zweifelhaftes System.
Crowdworking läuft so ab: Eine Firma wie Clickworker bietet Unternehmen an, ihre Großprojekte durchzuführen. Sie zerlegt die Projekte in zahllose Aufgaben, lässt diese von tausenden Menschen bearbeiten und setzt das Projekt wieder zusammen. Es handelt sich um eine neue Arbeitsorganisation, deren Konzept an die Fließbandarbeit erinnert. Wie die industrielle Revolution könnte auch sie grundlegend verändern, wie wir arbeiten und wie wir leben.
Für die Auftragnehmer, die Crowdworker, bedeutet das vor allem eines: "Die Bezahlung ist im Vergleich zur Leistung, die man erbringen muss, wirklich schlecht", erzählt eine 32-jährige Buchhändlerin aus Deutschland, die sich als Werbetexterin versuchte. Zwischen 70 Cent und 1,75 Euro brachten ihr die meisten halbstündigen Projekte ein. Bei diesen Dumpingpreisen verwundert es nicht, dass sie bald aufgab. Sie ist nur eine von tausenden unterbezahlten Crowdworkern.
Experten berechneten einen mittleren Stundenlohn von zwei bis drei Dollar, als sie die Plattform "Mechanical Turk" in den USA unter die Lupe nahmen. Es war der Versandhändler Amazon, der Mechanical Turk 2005 ins Leben rief und damit erstmals Crowdworking anwendete. Es sollten Teile von Computerprogrammen an Menschen "ausgelagert" werden - die Aufgaben, die durch menschliche Intelligenz nach wie vor besser gelöst werden als durch künstliche. Wissenschafter kritisieren aber, dass die menschliche Leistung in diesem System nicht mehr wahrgenommen wird. Denn die Firmen haben den Eindruck, als würde ein Computerprogramm ihre Probleme lösen. Schließlich bauen sie keinerlei Beziehung zu ihren Arbeitern auf. Sie sehen sich selbst nicht mehr als Arbeitgeber, sondern als Nutzer einer Maschine. Dadurch tendieren sie dazu, ethische Grundsätze zu vernachlässigen.
Vier Dollar: Für Inder viel, für Deutsche wenig
Doch warum wird dann überhaupt jemand Crowdworker? Der Inder Mohd Zaheer zum Beispiel ist von Crowdworking begeistert: "Am Anfang dachte ich nicht, dass ich viel verdienen würde, aber jetzt ist mein Einkommen mit einem regulären Job vergleichbar", erzählte er der "Wiener Zeitung". Er ist seit vier Jahren auf mehreren Crowdworking-Seiten tätig. Meist recherchiert er Adressen oder transkribiert Audiodateien, simple Aufgaben also. Durchschnittlich kommt er auf einen Stundensatz von vier Dollar, was deutlich über dem indischen Durchschnitt liegt. Inder registrieren sich am häufigsten auf Mechanical Turk; nicht wenige generieren daraus ihr Haupteinkommen. Christoph Klein von der Arbeiterkammer verwundert das nicht: "Leute aus Schwellenländern freuen sich natürlich über Gagen, die bei uns absolute Dumpinglöhne wären."
In Deutschland nur durch Clickworken zu überleben, das kann sich die deutsche Buchhändlerin nicht vorstellen. Dass man sich die Zeit vollkommen frei einteilen kann und Erfahrungen in neuen Branchen sammelt, sei schon verlockend, die Löhne hingegen nicht. Angesichts dieser Umstände fürchten Gewerkschaften, dass Crowdworking das Verlagern von Dienstleistungen ins Ausland weiter fördern könnte.
Die Crowdworking-Portale wachsen immer weiter. Auf Mechanical Turk sind rund 500.000 Leute aus 190 Ländern angemeldet. Crowdflower, die größte Plattform, stellt diese Zahlen in den Schatten: Ihre fünf Millionen registrierten Nutzer bewältigen täglich die gleiche Datenmenge wie ein Vollzeit-Angestellter in fünf Jahren. Allein in Deutschland soll es ungefähr 70 Crowdworking-Portale geben. Die Bandbreite reicht von simplen Seiten für Crowdworker ohne Expertise bis zu spezialisierten, etwa für Programmierer oder Webdesigner.
Die Arbeitsstatistik ist alles, was zählt
Dementsprechend weit geht auch die Lohnschere auseinander. Als Crowdworking-Profi 15 Euro pro Stunde zu verdienen, ist durchaus realistisch. Der Durchschnittslohn bleibt jedoch prekär. Für lukrativere Aufträge muss man sich in der Hierarchie des Anbieters nach oben kämpfen: Wenn man die Aufträge, die niemand haben möchte, möglichst zahlreich und fehlerfrei abarbeitet, verbessert sich die persönliche Leistungsstatistik. Dadurch qualifiziert man sich meist mühsam für besser bezahlte Arbeiten.
Vom Vollzeit-Techniker, der nachts sein Gehalt aufbessert bis zur unterdrückten Hausfrau, die heimlich Geld zur Seite legt, jeder Crowdworker hat seine individuelle Geschichte. Das Einzige, was das digitale Arbeiterheer gemeinsam hat, ist die Selbständigkeit. "Ich bin froh, keinem Chef gehorchen zu müssen", sagt Zaheer. Doch die Kehrseite ist, dass die Chefs auch ihm nicht gehorchen müssen. Mechanical Turk räumt den Firmen das Recht ein, nicht zufriedenstellende Arbeiten ohne Begründung abzulehnen. Sie können also ihren Auftragnehmern den Lohn verweigern - ob sie deren Arbeitsergebnisse wirklich verwerfen, kann aber niemand überprüfen.
Operieren im gesetzlichen Graubereich
Als Freiberufler sind Crowdworker auf sich allein gestellt. Sie werden durch keine Gewerkschaft vertreten und keinen Kollektivvertrag geschützt. "Nicht nach dem juristischen Verständnis, aber dem Gefühl nach sind das sicher keine Unternehmer. Hier werden Leute, die soziologisch gesehen Arbeitnehmer sind, unfreiwillig zu Selbständigen", erklärt Klein.
Er kritisiert das "Unterwandern von kollektivvertraglichen Lohnbedingungen, von arbeitsrechtlichen Gesetzen, von Arbeitszeitschutz", das mit der Scheinselbständigkeit einhergeht. Crowdworking-Anbieter verpflichten ihre Arbeiter meist, sich als Selbständige einzustufen. Dafür, dass das auch stimmt, haben die Arbeiter selbst Sorge zu tragen.
Ob dieses Vorgehen rechtskonform ist, hat weltweit noch kein Gericht entschieden. In Österreich sei Crowdworking jedenfalls noch kein großes Thema, meint Klein. "Das dürfte ein Randphänomen sein, wo sich ab und zu jemand ein paar Euro dazuverdienen will. Wir wurden jedenfalls noch nicht von Betroffenen angesprochen."