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"Die Rekrutierung von Kindern ist immer Ausdruck der Radikalisierung"

Von WZ-Korrespondent Philipp Hedemann

Politik
Im August 2015 wurden 163 Kinder von der Anti-Balaka Miliz freigelassen. Im Bild laufen sie gerade auf ein Zentrum für die Übergangsphase in der Stadt Batangafo zu.
© Unicef

Rudi Tarneden vom UN-Kinderhilfswerk Unicef weiß, wieso Kinder immer noch zum Töten gezwungen werden, was der Krieg aus ihnen macht - und wie die ehemaligen Kämpfer einen Weg zurück in die Gesellschaft finden können.


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"Wiener Zeitung": Wie viele Kindersoldaten wurden während des Bürgerkriegs in der Zentralafrikanischen Republik eingesetzt?

Rudi Tarneden: Da der Einsatz von Kindersoldaten weltweit geächtet ist, sagen Armeen und Milizen natürlich nicht, wie viele Jungen und Mädchen in ihren Reihen kämpfen. Aber wir gehen davon aus, dass in der Zentralafrikanischen Republik rund 10.000 Minderjährige gekämpft haben. Viele von ihnen stehen noch immer unter Befehl und sind bisher nicht wieder in die Gesellschaft integriert.

Wie viele Kindersoldaten gibt es weltweit?

Graça Machel, UN-Sonderberichterstatterin und Witwe von Nelson Mandela, hat eine Studie erstellt, nach der zwischen 1990 und 2000 etwa zwei Millionen Kinder gefallen sind, sechs Millionen zu Invaliden wurden und zehn Millionen schwere seelische Schäden erlitten. Nach Schätzungen gibt es derzeit weltweit zwischen 250.000 und 300.000 minderjährige Soldaten, jeder dritte davon ist übrigens ein Mädchen.

Nimmt die Zahl der kämpfenden Kinder ab oder zu?

Wir müssen davon ausgehen, dass die Zahlen momentan eher nach oben als nach unten gehen. Unter anderem in Syrien, im Irak, in Libyen und im Jemen zerfallen derzeit Staaten. Dort werden immer mehr Kinder rekrutiert. Zudem sind aktuell so viele Menschen auf der Flucht wie seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs nicht mehr. Die Hälfte von ihnen sind Kinder und Jugendliche, viele sind in Kriegsgebieten großgeworden und haben ihre Eltern verloren oder wurden von ihnen getrennt. Sich einer bewaffneten Gruppe anzuschließen, die ihnen Schutz, Essen und Trinken verspricht, erscheint vielen dieser Waisen als einzige Überlebenschance.

Wer rekrutiert Kindersoldaten?

Nicht nur Terrororganisationen und Rebellengruppen haben Kinder in ihren Reihen. Auch reguläre Armeen unter anderem in Russland, Myanmar und Kolumbien rekrutieren Minderjährige. Auch bei der deutschen Bundeswehr kann man sich bereits im Alter von 17 Jahren freiwillig melden. Zwar schickt die Bundeswehr keine Minderjährige in Kampfeinsätze, aber Unicef ist der Meinung, dass Deutschland mit gutem Beispiel vorangehen und ganz auf die Rekrutierung Minderjähriger verzichten sollte.

Wie werden Kinder eingesetzt?

Nicht jeder Kindersoldat ist ein Killer mit Kalaschnikow in der Hand. Sie werden auch als Träger, Wächter, Köche, Spione und als Sexsklaven für ältere Kämpfer eingesetzt. Immer wieder werden sie an vorderster Front als Kanonenfutter verheizt oder - wie beispielsweise in Nigeria - als Selbstmordattentäter losgeschickt.

Warum werden Kinder überhaupt als Soldaten verwendet?

Die Rekrutierung von Kindern ist immer Ausdruck der Radikalisierung eines Konfliktes. Deshalb brüsten sich Terrororganisationen wie Boko Haram oder der IS damit, dass sie bereits Achtjährige einsetzen. Diese perfide Taktik soll Angst und Schrecken verbreiten und dem Gegner signalisieren: Ich halte mich an keine Regeln mehr, Du musst mit dem Schlimmsten rechnen! Zudem sind Minderjährige billiger als reguläre Soldaten.

Können Kinder denn überhaupt gute Soldaten sein?

Kinder sind leicht zu beeinflussen, streben nach Anerkennung, gehorchen aus Angst oder Bewunderung und können Gefahren nicht richtig einschätzen. Manchen erscheint ihr Einsatz zunächst wie ein großes Abenteuer. Meist werden sie schnell zu Tätern gemacht, damit der Weg zurück verbaut ist. Mitleid wird ihnen zudem systematisch abtrainiert. So verrohen diese Heranwachsenden immer mehr.

Was passiert da mit der Psyche eines Kindes?

Viele Kindersoldaten werden getötet. Andere werden gezwungen, selbst zu töten. Sie sind Opfer und Täter zugleich. In der Folge leiden viele unter Depressionen und Angstzuständen, manche nehmen sich das Leben.

Werden Kindersoldaten gezwungen, Drogen zu nehmen?

Drogen können enthemmend und aufputschend wirken. Sie können aggressiv machen und die Angst betäuben. Sie können helfen, zu vergessen und Schlaf zu finden. Oft werden Kindersoldaten deshalb Drogen von ihren Vorgesetzten zur Verfügung gestellt.

Schließen die Kinder sich freiwillig bewaffneten Gruppen an?

Viele Kinder werden entführt und zwangsrekrutiert, andere schließen sich freiwillig an. Einige wollen so den Tod ihrer Eltern rächen, andere kommen aus armen oder zerrütteten Familien. Werden sie in eine Uniform gesteckt und wird ihnen eine Waffe in die Hand gedrückt wird, sind die zuvor Hoffnungslosen und Aussortierten plötzlich jemand.

Desertieren viele Kindersoldaten?

Nein. Denn die Kinder wissen, dass auf Fahnenflucht in der Regel der Tod steht. Außerdem haben die meisten alle Brücken hinter sich abgerissen. Oft kann ihnen nur noch ihre bewaffnete Gruppe Schutz bieten. Seit 1998 wurden allerdings auch rund 100.000 Kinder in 15 Ländern aus bewaffneten Gruppen entlassen und wieder in die Gesellschaft eingegliedert. Wann und wo es geht, bemüht Unicef sich darum, Kinder zu reintegrieren. Das ist angesichts der Traumata dieser Heranwachsenden und der Ablehnung, die ihnen entgegenschlägt, allerdings sehr schwer.

Was wird getan, um ehemalige Kindersoldaten zu reintegrieren?

Insgesamt noch immer viel zu wenig. Um wieder Teil der Gesellschaft zu werden, brauchen diese Kinder professionelle psychologische Unterstützung. Sie müssen reflektieren, was ihnen angetan wurde und was sie selbst getan haben. Werden sie einfach sich selbst überlassen, kann es leicht passieren, dass sie sich erneut bewaffneten Gruppen anschließen oder in die Kriminalität abrutschen, da sie im Krieg gelernt haben, sich mit Gewalt zu nehmen, was sie wollen. Die Friedensfähigkeit eines Jugendlichen, der nie eine Schule besucht, aber jahrelang gekämpft hat, muss erst trainiert werden. Diese Jungen und Mädchen zurück an die Schulbank zu bringen, ist wahrscheinlich die wichtigste Aufgabe. Unicef unterstützt ehemalige Kindersoldaten mit Ausbildungen, damit sie sich ihren Lebensunterhalt selbst verdienen können.

Rudi Tarneden ist Sprecher der deutschen Unicef-Sektion. Seit über 50 Jahren kämpft das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen weltweit gegen den Einsatz von Kindersoldaten. Tarneden hat in Krisengebieten wie dem Irak, dem Südsudan und Afghanistan mit Kindern und Jugendlichen gesprochen und eine ehemalige Kindersoldatin aus Uganda begleitet.