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Die rhetorische Wiederentdeckung der Neutralität durch die ÖVP war am Donnerstag- abend Gesprächsthema am Rande einer internationalen Tagung des Büros für Sicherheitspolitik zur "Gemeinsamen Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik" (ESVP) in Reichenau an der Rax. Der Tenor: Verständnislosigkeit und Rätselraten über die Motive des Kurswechsels.
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Innenpolitische Beobachter hatten die Mitte Oktober beim ÖVP-Kongress in Alpbach neu entflammte Leidenschaft für die Neutralität vor allem vor dem Hintergrund des Österreich-Konvents interpretiert: Die Volkspartei wolle offenbar mit diesem Zugeständnis die Zustimmung zu anderen strittigen Punkten bei der Verfassungsreform abgelten.
Doch auch jenseits der innenpolitischen Parteienlandschaft wurde der Schritt der Kanzlerpartei aufmerksam registriert, mit Unverständnis quittiert und als Rückschritt bezeichnet.
Es sei immer die Aufgabe der Neutralen gewesen, Konflikte zu lösen und Kriege zu vermeiden, genau das sei jetzt auch die Aufgabe der ESVP, meint Reinhardt Rummel von der Forschungsgruppe Europäische Integration der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik. Eigentlich müssten daher die vier Neutralen bzw. Bündnisfreien Österreich, Schweden, Finnland und Irland aufgrund ihrer Erfahrung am besten konzeptiv auf die ESVP vorbereitet sein und diese vorantreiben, "aber sie tun es nicht" - sieht man einmal von Schweden ab.
Der Grund liegt für Lothar Rühl, Staatssekretär a.D. unter Helmuth Kohl, auf der Hand: "Die Neutralität ist ein Politikum, kein Faktum." Denn wenn man die EU ernst nehme, könne man nicht neutral und auch nicht bündnisfrei sein. Es sei ein Missbrauch der Neutralität, wenn man diese nur als Vorwand benutze, um sich frei von Verpflichtungen zu halten. Das könne man auch in der NATO, man brauche sich nur auf die so genante "opting-out"-Klausel zu berufen. Dem pflichtet auch Franco Algieri vom Münchener "Centrum für angewandte Politikforschung" bei: "Österreich beginnt mit der Diskussion über die "Relativität der Neutralität".
Eine EU ohne Neutrale hätte schon längst die Beistandsklausel, sind sich alle Experten einig. In der rhetorischen Wiederentdeckung der Neutralität sehen sie einen internationalen Verlust von Ansehen, Vertrauen und Handlungsspielraum. Erich Reiter, Chef des Büros für Sicherheitspolitik, sieht darin den "Sieg des Populismus in der Sicherheitspolitik".