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Die Reue des Dschihadi

Von WZ-Korrespondent Peter Nonnenmacher

Politik

Abu Muntasir war einst einer der "Gründungsväter" des heiligen Krieges gegen den Westen - heute versucht der 55-Jährige, junge Muslime davon abzuhalten, sich dem IS anzuschließen und nach Syrien in den Kampf zu ziehen.


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London. Es gibt ein Bild von ihm aus alten Dschihadi-Tagen. Er steht auf einem schmutzbespritzten Panzer und hält im Arm - gefechtsbereit - eine Kalaschnikow. Hier, vor den blauen Gebirgszügen Afghanistans, war Abu Muntasir im Einsatz, um gegen "die Ungläubigen", die Russen, zu kämpfen. Auch in Kaschmir und Burma (Myanmar) zog er für eine Sache, an die er glaubte, in den Krieg.

Und nicht nur das: Muntasir mobilisierte in den 1980er und 90er Jahren nach eigenen Worten "tausende" junger britischer Moslems für diese Schlachten und für Einsätze in Bosnien und Tschetschenien. Er habe, hat der 55-Jährige jetzt im britischen Fernsehen gesagt, damals die nötigen "Verbindungen hergestellt". Er habe Schleusen geöffnet und dafür gesorgt, "dass ein Rinnsal sich in eine Flut verwandelte": "Ich habe inspiriert und rekrutiert, Geld beschafft und Waffen gekauft - und das nicht nur einmal, sondern 15 bis 20 Jahre lang."

Im Grunde wisse er nicht, fügt Abu Muntasir hinzu, "warum ich nie verhaftet worden bin". Mit einer Strafverfolgung aber, weiß auch der britische Staat, schnitte sich Großbritanniens ins eigene Fleisch. Denn bei seinem letzten Einsatz in Burma fiel es dem "Soldaten Allahs" wie Schuppen vor Augen. Er kämpfte gar keinen "heiligen Krieg", begriff Muntasir, sondern war in "eine Schlächterei" geraten, zu der junge Moslems überall verführt wurden. Korrupte Kommandeure und blutrünstige Ideologen im Kriegsgebiet beuteten naive junge Freiwillige aus europäischen Moslem-Vierteln aus.

Seither bereut Muntasir bitter seine Rolle als einer der "Gründungsväter des westlichen Dschihad" in Großbritannien. Für viele moslemische Familien im Westen sei es an der Zeit, sich die Frage zu stellen, warum ihre Söhne und Töchter sich in irgendwelchen sinnlosen Kriegen für falsche Ideale "in die Luft sprengen" ließen, meint der Brite, der eine dramatische Kehrtwendung vollzogen hat - und der in Kauf nimmt, dass er für andere nun "ein Feigling" ist.

"Hass ist nicht, was uns Mohammed gelehrt hat"

Muntasir leitet heute die Organisation "Jimas", einen karitativen Verband, der sich moslemischer Flüchtlinge annimmt und gegenseitiges Verständnis zwischen Moslems, Andersgläubigen und Atheisten fördert. Gerade weil er ein gläubiger Moslem sei, beteuert der Ex-Dschihadi, trete er heute für Toleranz, Versöhnung, Pluralismus ein. Denn solchen Pluralismus lehre der Koran.

"Ich kann nicht hassen", meint Muntasir. "Hass ist nicht, was uns Mohammed gelehrt hat." Genau das sucht der nunmehrige Anti-IS-Aktivist jungen Mitbürgern im Königreich, so gut er kann, zu vermitteln. Tränen der Reue treten dem Mann mit dem mächtigen Graubart in die Augen, wenn er sich den Tod 13-jähriger Schüler, die mit Granatwerfern in die Schlacht in Burma geschickt wurden, in Erinnerung ruft: "Es hätten meine eigenen Kinder sein können."

Sehr viel mehr Offenheit, auch innerhalb moslemischer Familien, hält Muntasir in diesem Zusammenhang für nötig. Er scheut sich auch nicht, von einer unguten "Besessenheit" britischer Moslems für Fragen der Außenpolitik zu sprechen. Oder andere Moslems aufzufordern, nicht immer nur "die Medien" für falsche Vorstellungen vom Islam verantwortlich zu machen. Sondern solche Vorstellungen durch eigenes "staatsbürgerliches" Verhalten, durch mehr gesellschaftliches Engagement zu verändern.

Auch einige derer, die Muntasir seinerzeit überzeugte, haben sich mit ihm zusammen von der Vergangenheit abgewandt. Alyas Karmani, der in Muntasir einmal "eine charismatische Vaterfigur" sah, hält die alten Aktionen inzwischen für "ein Virus, mit dem wir damals eine ganze Generation infizierten - und nun breitet sich das Übel immer weiter aus".

Er selbst, betont Karmani, sei "ein Aktivist, kein Extremist" gewesen. Er habe immer gemischte Gefühle in Sachen "heiliger Krieg" gehabt: "Aber ich war zornig damals. Ich hatte einen gewalttätigen Vater. Und überall um mich herum erlebte ich Rassismus. Ich war ganz einfach wütend und frustriert. So haben wir das Virus seinerzeit verbreitet. Und den heutigen Kids steckt es jetzt voll im System."

Um Ideale gehe es gar nicht, wenn nun europäische Teenager dem Ruf des IS folgten, meint Karmari, der heute Sozialarbeiter, Jugendhelfer und Imam im nordenglischen Bradford ist. "Die Attraktion ist eine andere. Dies ist der neue Rock’n’Roll - Dschihad ist sexy. Ein nicht besonders gut aussehender Bursch sieht plötzlich besser aus, wenn er eine Waffe in der Hand hat. Er kann eine Braut bekommen. Er hat mit einem Mal Macht."

Männlichkeitsfantasieneiner Zwangsgesellschaft

Das IS-Gewehr, meint Alyas Karmani spöttisch, sei für einen jungen IS-Rekruten "ebenso eine Penisverlängerung wie der Ferrari für den Börsenmakler". Oft seien familiäre Verhältnisse, unterdrückter Sex, wenig Chancen zur Kommunikation in Einwandererfamilien der ersten oder zweiten Generation schuld. Natürlich auch, dass Moslems im Westen noch immer als "die Anderen" gesehen würden und häufig zwei separate Leben lebten. Leider, klagt Karmani, sei Jugendarbeit, die sich mit solchen Fragen beschäftige, in einem Land wie Großbritannien oft kaum mehr möglich, weil im Zuge der Austeritätspolitik die Gelder gestrichen worden sind.

Abu Muntasir seinerseits beschwört in seiner neuen Rolle als Friedensstifter junge Glaubensgenossen, die Fehler seiner Generation nicht zu wiederholen: "Ich weiß noch, wie wir Leute überredeten, indem wir einfach alle Fakten und Realitäten und alle alternativen Ansichten von Moslems und vom moslemischen Glauben ignorierten."

Von einer Reporterin gefragt, ob er sich selbst vergeben könne für seine frühere Rolle, vergießt Muntasir erneut bittere Tränen. "Was soll man darauf antworten?", fragt er schließlich zurück.