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Die Revolution der Frauen

Von Simone Brunner

Politik
Weibliche Zivilcourage in Minsk: Eine Demonstrantin konfrontiert einen Beamten mit Fotos von Opfern polizeilicher Gewalt.
© reuters/tut.by

Bei den Protesten in Belarus traten sie in Schlüsselmomenten in Erscheinung: die Frauen. Inzwischen wendet sich Lukaschenkos repressiver Apparat zunehmend gegen sie.


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Wenn Maria am Morgen hinausgeht, ist sie sich nicht sicher, ob sie am Abend wieder nach Hause kommt. Aber nach den Wochen der Proteste, der Festnahmen, der Polizeigewalt habe sie sich schon daran gewöhnt. Immerhin sei es nur noch eine Frage der Zeit, bis sie festgenommen werde. Ein Grund, warum sie mittlerweile keine Kleider, Röcke oder hohen Schuhe mehr trägt, wenn sie das Haus verlässt, sondern nur noch Turnschuhe, Jeans und Jacke. Einerseits könne man damit gut weglaufen, wenn man verfolgt werde, erklärt sie. Andererseits halte eine Jacke auch in einer Gefängniszelle warm.

Belarus. Trotz Repressionen, Festnahmen und Einschüchterungen reißen im 9,5-Millionen-Einwohner-Land die Proteste gegen den Präsidenten Alexander Lukaschenko nicht ab. Dieses Wochenende gehen die Menschen zum sechsten Mal in Folge auf die Straße. Dabei spielen Frauen wie Maria eine besondere Rolle: Sie waren es, die mit ihren Aktionen eine Eskalation der Gewalt durchbrachen und den Protesten eine neue, friedliche Richtung gaben. Und sie sind es, die männliche Demonstranten im öffentlichen Raum vor dem Zugriff der brutalen Polizei, ob nun in Uniform oder in Zivil, schützen.

Erst diese Woche machten in sozialen Medien Bilder aus Minsk die Runde, wie eine Gruppe aus Frauen ihre männlichen Kollegen vor bewaffneten Polizisten in Sturmhauben abschirmte und rettete.

Barfuß, in weißen Gewändern

Maria (Nachname der Redaktion bekannt) war von Anfang an bei den Frauenprotesten dabei. An jenem mittlerweile historischen Vormittag, als sich nach den ersten drei Gewaltnächten nach den Präsidentschaftswahlen am 9. August hunderte Frauen im Minsker Stadtzentrum zu einer Solidaritätskette versammelten, um gegen die Polizeigewalt zu demonstrieren. In weißen Gewändern, mit weißen Blumen, barfuß, sangen sie belarussische Volkslieder. "Wer wird schon auf Frauen in weißen Kleidern schießen, am helllichten Tag?", dachte sich Maria damals. Die Autos hupten, die Passanten zückten ihre Handys, die Bilder von den "Frauen in Weiß" fluteten die sozialen Medien. Es war ein Schlüsselmoment der Proteste. Danach hörte die Gewalt zumindest für einige Tage auf, am Wochenende gingen in Minsk mehr als 100.000 Menschen auf die Straße.

Seither sind die Frauen in Belarus in aller Munde. Die Bilder von den weißen Frauen gingen um die Welt. Unter dem Titel "Flower Power" widmete der "Guardian" seine Titelgeschichte. Jeden Samstag marschieren sie seither durch die Städte, rufen "Lukaschenko, hau ab" und schwenken weiß-rot-weiße Fahnen. "Die Frauen haben unsere Revolution gerettet", sagt man heute in Belarus.

Auch Anastasia Kostjugowa, Projektmanagerin in einem Minsker E-Commerce-Unternehmen, gehört zu den Aktivistinnen der ersten Stunde. In den ersten drei Nächten der Proteste, als sich das Minsker Stadtzentrum in eine Hölle aus Schlagstöcken, Granaten und Schüssen verwandelte, sah sie aus nächster Nähe, wie Demonstranten von der Polizei verhaftet, zusammengeschlagen und brutal abgeführt wurden.

Die Demonstranten waren friedlich, doch Nacht für Nacht, Stunde für Stunde stieg auch bei ihnen der Frust. Um der Propaganda keine Steilvorlage zu liefern, die Lukaschenkos These stützen könnte, dass es sich bei den Protesten ohnehin nur um bezahlte Provokateure oder prügelnde Plünderer handelte, verabredete sie sich mit Bekannten, um eine betont friedliche Aktion zu organisieren: die Aktion der Frauen. "Die ersten drei Tage spielten wir nach den Männerregeln, und dann nach den Regeln der Frauen", sagt die 28-Jährige heute. "So haben wir den Aggressionslevel gesenkt und gezeigt, dass die Instrumente des Patriarchats auch ins Leere laufen können." Und niemand verkörpert dieses Patriarchat mehr als Alexander Lukaschenko. Der langjährige Autokrat, der immer wieder mit seinen misogynen Aussagen aufgefallen ist, Frauen als "arme Dinger" bedauerte oder behauptete, dass die Verfassung nicht für sie geschrieben sei, da jede Frau sofort unter der Last der präsidialen Vollmachten zusammenbrechen würde. Rhetorische Schützenhilfe bekam er dabei von der Leiterin der Wahlbehörde, Lidija Jermoschina, mit dem Ausspruch, Frauen sollten "besser zuhause bleiben und Borschtsch kochen", statt sich abends noch auf den Straßen bei Protesten herumzutreiben.

Repressiver Macho-Staat

Es ist freilich eine Ironie der Geschichte, dass es ausgerechnet drei Frauen sein sollten, die das System Lukaschenko in die größte Krise seiner 26-jährigen Amtszeit stürzen, allen voran seine Gegenkandidatin Swetlana Tichanowskaja. Es war gerade dieser immer wieder explizit vorgebrachte Chauvinismus, der sowohl Tichanowskaja als auch die "weißen Frauen" nicht für voll nahm, in dessen Windschatten sie jedoch zum fast übermächtigen Gegner anwachsen konnten, am repressiven Macho-Staat vorbei, der nicht so recht mit ihnen umzugehen wusste. Ob die Proteste das konservative Frauenbild in Belarus verändern oder doch bestätigen, wird sich zeigen. Fakt ist, dass die Proteste in Belarus ohne ihre Aktionen wohl einen anderen Verlauf genommen hätten. Doch immer mehr rote Linien werden überschritten. Dieser Tage häufen sich die Berichte, wie auch Frauen von Polizisten verhaftet werden. Am Montag wurde etwa Maria Kolesnikowa, die letzte der "drei Frauen gegen Lukaschenko", die noch im Land ist, verschleppt.

Crackdown kennt keine Grenzen

Sie befindet sich inzwischen in einem Minsker Untersuchungsgefängnis, nachdem sie sich gegen eine erzwungene Ausreise gewehrt und ihren Pass zerrissen hatte. Bei der Literaturnobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch läuteten dieser Tage ebenso Lukaschenkos Sicherheitskräfte, die "Silowiki", an, die Wohnungen von bekannten Aktivistinnen wurden durchsucht, dutzende Frauen wurden festgenommen.

Es scheint, als kenne der Crackdown inzwischen keine Grenzen mehr. Das spürt auch Kostjugowa. Sie hat Angst, die Nächste zu sein. "Aber wenn wir jetzt nicht unsere Furcht überwinden und Lukaschenko loswerden, dann wird es nur noch schlimmer werden", glaubt sie. "Dann müssen wir ohnehin die nächsten Jahre in Angst und Schrecken leben." Am Dienstag dieser Woche läuteten maskierte Männer in Zivil an ihrer Wohnungstür Sturm, später durchsuchten auch Polizisten ihr Büro. Sie ist inzwischen außer Landes geflohen.