Zum Hauptinhalt springen

Die Rezession blieb 2022 aus - und könnte auch 2023 ausbleiben

Von Nicky Maan

Gastkommentare
Nicky Maan ist Geschäftsführer von Spectrum Markets.
© Spectrum Markets

Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 1 Jahr in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

Wir haben gerade ein Jahr völliger Unberechenbarkeiten hinter uns: Kaum einer hätte im Jänner 2022 eine zweistellige Inflationsrate bis zum Jahresende vorausgesagt. Damal, als die Spannungen an der Ostgrenze der Ukraine zunahmen, rechnete die Wirtschaft vorsichtig mit einer Fortsetzung des Aufschwungs nach Corona, und der beste Rat für 2022 lautete, sich auf das Unerwartete vorzubereiten. Ohne wie eine kaputte Schallplatte klingen zu wollen, lautet der klügste Ratschlag für 2023: Vorbereiten auf das Unerwartete. Denn obwohl das vergangene Jahr ereignisreich war, sind die Ursachen dafür nach wie vor ungelöst.

Die Ölpreise sind von einem Höchststand weit jenseits der 100 Dollar im Sommer 2022 auf zeitweise unter 80 Dollar im Dezember gefallen. Die Inflation liegt immer noch hunderte Prozentpunkte über den Geldwertstabilitätszielen der Zentralbanken; sinkende Energiekosten könnten aber dazu beitragen, die Situation unter Kontrolle zu bringen. Unterdessen setzt der Druck der Verbraucher dem Preisanstieg eine natürliche Grenze: Hersteller und Einzelhändler machten zwei Jahre lang Corona-bedingte Lieferkettenprobleme für Preisanstiege verantwortlich, doch das zieht bei vielen Verbrauchern nicht mehr: Sie erkennen, dass die Bemühungen zur Eindämmung der Pandemie zu Überkapazitäten und einer größeren Widerstandsfähigkeit der Lieferketten geführt haben.

Eine häufige Vorhersage wurde jedoch immer wieder aufgeschoben: Wir erleben zwar zweifellos einen Konjunktureinbruch, aber die befürchtete weltweite Rezession bleibt bisher aus. 2023 gibt es Anzeichen dafür, dass sie gänzlich vermieden werden könnte. In den USA übt ein wettbewerbsfähiger Arbeitsmarkt einen Aufwärtsdruck auf die Löhne aus, was den Konsum ankurbeln und das Risiko einer Rezession verringern könnte. Europa ist von russischem Gas abhängig und damit in einer schwächeren Position, aber eine Rezession ist nicht unvermeidlich; und wenn, dann dürfte sie wohl nur kurz andauern.

Dies ist zum Teil auf das Problem zurückzuführen, zu definieren, was wirklich eine Rezession ist. Auf den ersten Blick scheint dies eine unnötige semantische Spitzfindigkeit zu sein, aber es bringt auf den Punkt, die Anlagestrategie heuer aufgebaut werden sollten: nicht auf Basis willkürlicher Maßstäbe wie der Definition einer Rezession mit "zwei aufeinanderfolgenden Quartalen mit negativem Wachstum", sondern im Vorgriff darauf, wie sich die wirtschaftliche Realität auf die Bereiche auswirken dürfte, in die investiert wird.

Energiepreise, Unterbrechungen der Versorgungskette, Inflation, Krieg, Klimakrise und öffentliche Gesundheit werden unterschiedliche und schwer vorhersehbare Auswirkungen auf jeden Teil der Wirtschaft haben. Wie immer ist ein breit gefächertes Anlagespektrum eine bewährte Methode, um sich vor diesen Variablen zu schützen. Langfristig orientierte Anleger sollten sich mit nachhaltigen und ESG-orientierten Anlagen (Environmental Social Governance) befassen, die sich zu sicheren Anlagen der Zukunft entwickeln könnten.

Angesichts des rückläufigen Wachstums, unabhängig davon, ob es sich formal um eine Rezession handelt oder nicht, wird seit langem empfohlen, sich in defensiven, nicht zyklischen Sektoren zu engagieren. Es könnte sich jedoch lohnen, nicht nur in nicht-zyklische Sektoren zu investieren, sondern von vornherein antizyklisch zu handeln. Anleger mit ausreichender Risikobereitschaft und Risikotragfähigkeit können kurzfristige Chancen über gehebelte Produkte nutzen, um in einem Umfeld anhaltender Volatilität angemessen von Kursschwankungen zu profitieren. Das Ergebnis beider Ansätze wird davon abhängen, ob auf den derzeitigen Abschwung ein steiler Aufschwung oder ein langer und langsamer Weg zur Erholung folgt.