Die Ausreisen in syrische Kriegsgebiete gehen weiter, die Frage bleibt: Warum konnte Mirsad O. so lange ungestraft agieren?
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Wien/Graz. Es ist nötig, ein oder zwei Schritte von dem offensichtlichen Bild zurück zu treten, um das Muster des Dschihadismus zu entschlüsseln. Die Biographien der europäischen freiwilligen Kämpfer, der Burschen und Mädchen, die nach Syrien und den Irak reisten, um sich dort Extremisten anzuschließen, sind die einzelnen Mosaikstücke. Zusammen ergeben sie das Bild des Radikalisierungsprozesses.
Und rasch lassen sich "Hassprediger" als zentrale Figuren darin ausmachen. Der 34-jährige Mirsad O., dem nun in Graz der Prozess gemacht wird, ist einer von ihnen. Möglicherweise sogar eine der zentralen Figuren. "Seine Kernbotschaft war, ‚der Islam ist durch den Dschihad zu verbreiten‘", sagte der Staatsanwalt am ersten Prozesstag. Das Zielpublikum seien Muslime zwischen 14 und 30 Jahren gewesen, die "einer Gehirnwäsche unterzogen worden sind," so sein Vorwurf.
7000 europäische Jugendliche zogen in den Dschihad
Zwei junge Mädchen waren unter ihnen, aufgewachsen in Wien, über die später als "Dschihad-Bräute" weltweit berichtet wurde. Ein erst 16-jähriger Österreicher, der im März 2014 nach Syrien reiste, zählte zu seinen "Fans", die regelmäßig in eines seiner Gebetshäuser nahe des Riesenrades in Wien-Leopoldstadt wanderten.
Zirka 7000 europäische Jugendliche, davon etwa 280 aus Österreich, folgten solchen Aufrufen und machten sich heimlich auf ins Kriegsgebiet in Nahost. Viele konnten auf die Hilfe der Hassprediger bei der Ausreise zählen. Nicht alle schlossen sich der Terrormiliz des sogenannten Islamischen Staates an. Erst seit 2014 agiert diese Gruppe als eigenständige Miliz; zuvor waren es Gruppen wie "Jabhat al-Nusrah", die sich zum Al-Kaida-Netzwerk zählt und zwei weitere radikal-islamistische Milizen, die Europas Dschihadisten aufnahmen.
Manche blieben nach der Entstehung des IS im Frühling 2014 den anderen Extremisten-Gruppen treu und begannen sogar gegen diese Gruppe zu kämpfen. Andere wechselten die Seiten zum IS. Es ist also deutlich komplizierter, dieses Muster der Radikalisierung und Rekrutierung für den IS, als es auf den ersten Blick scheint.
Mirsad O. war unter seinem Kampfname "Ebu Tejma" bereits hoch aktiv, als es den IS noch nicht einmal gab. Er "arbeitete" für die Vorläufer-Gruppen. Und später, so ein Insider, habe er in Haft wie wild auf den IS geflucht.
Doch die Distanz zum IS macht ihn nicht weniger gefährlich. Fakt ist: Solche Figuren haben in Europa den Boden für die Verbreitung einer der gefährlichsten Terror-Gruppen der Welt geebnet. Ohne sie gebe es den IS als globale Bedrohung heute nicht.
Die erwähnten Biographien der jungen Dschihadisten zeigen auf: Erst in den Hinterzimmern der Moscheen wurden ihre kruden Fantasien ihres verzerrten Islam-Bildes gefestigt. Doch fast alle lernten den sogenannten Islamischen Staat und den Irrsinn dieser Ideologie zuerst über soziale Netzwerke kennen. Es sind die Bilder aus dem syrischen Bürgerkrieg, vor allem von getöteten Kindern, meist versehen mit dem Aufruf, den Wehrlosen helfen zu müssen, die zum ersten Zündfunken der Radikalisierung werden.
In vielen Fällen war das Engagement für karitative Vereine, die vor Ort tätig sind, quasi die Einstiegsdroge für diese Jugendlichen. Kontakte zu solchen Gruppen und ideologische Festigung boten ihnen die Hassprediger an. So gab jener damals 16-jährige Wiener nach seiner Rückkehr in Österreich zu Protokoll, dass er vor seine Abreise zuerst im Netz die Ideologie der Kämpfer in Syrien kennenlernt habe, und sich erst dann auf die Suche nach Moscheen in Österreich gemacht hatte, wo über das Problem und den nötigen Widerstand gesprochen wurde. Er fand mit Mirsad O. einen Prediger, der das wiedergab, was er zuvor schon "irgendwo gelesen" hatte.
Es sind also viele Räder, die ineinander gegriffen haben, damit eine Gruppe wie der IS auch bei uns Fuß fassen konnte. Ein zentrales Drehmoment ging anfangs von Leuten wie Mirsad O. aus. Das Problem dabei: Längst hat die Gruppe eine Eigendynamik erlangt, die sich nicht mehr stoppen lässt. Fast alle "Hassprediger", die Extremismus verbreitet haben, sind in Europa längst in Haft, viele verurteilt.
Rekrutierung läuft fast nur noch übers Internet
Zahlen aus Deutschland, die Ende Dezember vorgestellt wurden, belegen, dass in den letzten Monaten des Vorjahres die Zahl der neu Ausgereisten Richtung Syrien wieder stieg. Ein Trend, der in ganz Europa zu bemerken ist. Die Ideologisierung und Rekrutierung läuft mittlerweile fast nur noch online; über Kontakte in Chatrooms, in sozialen Medien, die Jugendliche in ihren Kinderzimmern aufbauen.
Deshalb rückt mit dem Prozess gegen Mirsad O. nun eine andere, zentrale Frage in den Vordergrund: Warum konnte ein amtsbekannter Verhetzer wie er so lange ungestraft agieren und ein Sammelbecken für aufgewiegelte Jugendliche bilden?
Er mag vielleicht "nur" für die Mobilisierung der ersten Generation der IS-Kämpfer verantwortlich gewesen sein. Doch wären sie nie ausgereist, hätte der IS heute kein Personal für jene, die jetzt aus der IS-Hauptstadt Raqqa im Alleingang ihr Heer an Gotteskriegern weiter ausbauen.